Mit der Tram ins Nirgendwo

Die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit: Eine Ausstellung mit Fotografien von Robert Paris und Karl-Ludwig Lange dokumentiert in der Brotfabrik, wie trist das Leben in den Berliner Randgebieten auch nach der Wende war

An der „Weißenseer Spitze“ treffen mit Pankow, Prenzlauer Berg und Weißensee gleich drei Stadtbezirke aufeinander. Doch was – zumindest noch bis zur Bezirksneuordnung am 5. 1. 2001 – vielversprechend klingt, sieht ziemlich öde aus. Holpriges Kopfsteinpflaster, Straßenbahngleise und Autolawinen, die sich zwischen Zentrum und Autobahnauffahrt gen Hamburg hin- und herwälzen.

Kein schöner Ort, gäbe es hier nicht die Brotfabrik. In deren Galerie sind Fotografien von Karl-Ludwig Lange und Robert Paris zu sehen, die in den Jahren 1992 bis 1994 in eben jenen Straßenzügen „Zwischen Hamburger Platz und Weißenseer Spitze“ mit der Kamera unterwegs waren. Sie dokumentieren den Zustand eines Viertels, dessen kleinteilige vorindustrielle Bebauung schon damals ihre ursprüngliche Funktion weitgehend verloren hatte.

Karl-Ludwig Lange (Jahrgang 1949), Stadtethnograf par excellence, zeigt die Weißenseer Straßen meist menschenleer. Die langen Gleise der Tram scheinen ins Nirgendwo zu führen. Überall bemalte Mauern, verlassene Gewerbehöfe, vernagelte Fenster in leerstehenden Häusern, Schutthalden, selten bunte Werbeplakate der neuen Zeit. Im Gegenteil: In Langes Bildern scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Im alten Kino läuft schon lange kein Film mehr. Im Zuschauersaal nur kaputte Stühle, Staub und Dreck. Und viele, zu DDR-Zeiten nie sanierte Fassaden, tragen auch 1994 noch die Schriftzüge von Anno dazumal.

Robert Paris dagegen rückt neben der Liebe zum Gebäude immer wieder Menschen in den Mittelpunkt. Magisches Licht begleitet Arbeiter, die flüssiges Eisen gießen. Ein bärtiger Mann zersägt in einer Steinschleiferei einen riesigen Gesteinsblock. Mit einem eher unscheinbaren Bild führt der 38-Jährige die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit vor Augen: An der Einfahrt einer Autowerkstatt in der Langhansstraße hängen gleich mehrere Schilder, die auf verschiedene Epochen verweisen, handelt es sich doch um einen Spezialbetrieb für Trabis, der nach der Wende zum Dekra-Prüfstützpunkt mutierte.

Die schwarzweißen Arbeiten beider Berliner Fotografen zeigen, dass die Zeit nach der Wende für diesen Teil Weißensees alles andere als eine vielversprechende Zukunft barg. Aus einem Viertel mit kleinen handwerklichen Betrieben und vereinzelten Künstlerateliers entstand ein neues Wohngebiet.

Heute, sechs bis acht Jahre nach den Aufnahmen, sind nur noch wenige leer stehende oder graue Häuser rund um die Weißenseer Spitze zu finden. Die Mehrzahl der Fassaden ist saniert, es gibt viele Geschäfte, nur einige Läden suchen neue Mieter. Die Straßen sind mit Werbung zugepflastert. Und an der Autowerkstatt fehlt der Hinweis auf die Trabis. Denn für solche Dienste besteht längst kein Bedarf mehr. Und so eröffnet die Ausstellung den Blick auf ein atmosphärisches Stück Berlin, das in dieser Form heute nicht mehr vorzufinden ist. ANDREAS HERGETH

Bis 30. Dezember, Mi.–So. 16–21 Uhr; Brotfabrik Galerie, Prenzlauer Promenade 3, Weißensee