auf augenhöhe
: Richard Rother über Schnee, Matsch und Brandenburger Eigenarten

Viel auf die Schippe genommen

Wenn es schneit, spielen die Hormone verrückt: Erwachsene werden zu Kleinkindern, bauen Schneemänner, rodeln auf sandigen Hügeln, seifen sich gegenseitig ein. Wenn es schneit, werden Kinder erträglich, weil sie von selbst aufhören, sich mit Schokolade, der Fernbedienung und Britney Spears zu beschäftigen. Wenn es schneit, werden Hysteriker ruhig, und Langweiler entwickeln ungeahnte Energien. Wenn es schneit, ist alles anders – nur die Brandenburger bleiben, wie sie sind: verklemmt, missgünstig, festgefahren.

Ich traute meinen Augen kaum, als ich gestern Morgen schlaftrunken aus dem Fenster schaute: Auch in Fredersdorf, 20 Kilometer östlich Berlins, hatte es wieder die ganze Nacht geschneit. Eine dicke, weiße Decke legte sich über alles, was den Brandenburgern heilig ist: die Rasenflächen in den Vorgärten, die braun gestrichenen Gartenzäune, die Dächer der neu gebauten Häuschen, die Ladas und Skodas in den Hofeinfahrten. Natürlich war auch mein Auto total eingeschneit, das ich etwas abseits und außerhalb des Gartens meiner Eltern auf der Straße geparkt hatte.

Eingeschneit? Ich rieb mir die Augen. So viel hatte es nun doch nicht geschneit. 20, 30 Zentimerter Neuschnee auf dem Dach des Autos, dazu ein Schneehaufen vor dem Spoiler. Hatte vielleicht ein Räumfahrzeug den zusammengekehrten Schnee hier einfach abgeladen? Doch eigentlich hat doch immer alles seine Ordnung in Fredersdorf. Irgendetwas muss faul sein an all dem Schnee. Ich frühstückte in Ruhe, leider war der Empfang von KissFM miserabel, dann ging ich vor die Tür. Ein bisschen Schnee schippen macht schließlich Spaß – und die Verwandten freuen sich.

Als ich mich zu meinem Auto vorgearbeitet hatte, löste sich das Rätsel langsam: Da waren Profis am Werk gewesen, haben einige Arbeit auf sich und einiges auf die Schippe genommen. Feinsäuberlich haben sie das Auto mit Schnee zugeschaufelt: 30 Zentimeter auf Dach, Motorhaube, Scheiben; dazu ein halbmeterhoher Schneewall vor und hinter dem Auto, der Raum unter dem Unterboden war zugestopft. Die Nummernschilder mit dem Berliner Kennzeichen waren besonders akribisch zugedeckt: Das Gemisch aus Eis, Schnee und Brandenburger Erde hielt wie festgeklebt. Irgendetwas war auf die Scheibe gekritzelt. Bouletten raus!? Vielleicht hat der Neuschnee die Inschrift verwischt. Und die Spuren der tatkräftigen Brandenburger. Wo kamen sie her, hinter welcher Gardine stehen sie, feixend zuschauend, wie sich ein Berliner mit einer Schaufel müht? Und vor allem: Was wollten sie mit dem vielen Schnee sagen? Fremde sehen wir am liebsten von hinten, bei uns parkt man nicht auf der Straße, oder: Wir können sogar am Feiertag arbeiten?

Wenn sie nur Arbeit hätten – die Brandenburger! Am besten rund um die Uhr! Dann hätten sie endlich keine Zeit mehr, Autos in Schneehaufen zu verwandeln, Ausländer zu verprügeln oder ortsfremd scheinende Spaziergänger als potenzielle Einbrecher zu verfolgen – wie ich just vor einem Jahr erlebte (taz, 7. 1. 2000). In Fredersdorf.