In der U-Haft sind Sprachkenntnisse gefragt

Übersetzen und Strafen

Meine Freundin Vera drängt es in die Neuen Medien. Ich rate ihr zum Dolmetschen, denn ihr passieren die blödesten Sachen, und ihre Sprachkenntnisse reißen sie immer wieder raus.

Letztens allerdings auch einmal rein. Vera sollte die Zeugin eines Unfalls mit aufs Polizeirevier begleiten, um deren Aussage vom Russischen ins Deutsche zu übersetzen. Als die Polizei jedoch ihre Daten wegen des Honorars überprüfte, stellte sie fest, dass ein Haftbefehl gegen Vera vorlag. Sie hatte die Rechnung eines Buchclubs über 1400 DM nicht bezahlt und sämtliche Mahnschreiben ignoriert. Die Polizisten ließen sie nicht mehr weg. Vera musste für 20 Tage in den Knast. Sie bekam einen Schock, weil sie an die sowjetischen Gefängnisse dachte: „Mit ihrer Gewalt, den Drogen und der Angst!“. Man nahm ihre Fingerabdrücke ab, machte Photos und dann wurde sie zusammen mit 16 anderen LeidensgenossInnen in einen grauen Bus verfrachtet.

Vera kam in einen ehemaligen Stasi-Knast nach Lichtenberg, wo vor allem Minderjährige, Drogensüchtige und U-Häftlinge einsitzen. Anfangs traute sie sich nicht aus der Zelle. Unentwegt las sie Bücher, aber sie musste am gemeinsamen Spaziergang und am Fernsehabend teilnehmen. Am dritten Tag wurde sie zur Sozialarbeiterin gebracht, die sich mit einer Bosnierin nicht verständigen konnte. Vera hatte die Frau bereits im Bus kennengelernt, sie hatten auf „Jugoslawisch“ miteinander geredet. Diese Frau hatte nun nach Vera gefragt. Es ging darum, dass sie einen Verwandten anrufen wollte, damit der eine Kaution für sie hinterlege. Sie hatte einen Fernseher nicht abbezahlt und ebenfalls 1000 DM Schulden. Vera musste nun die ganzen Qualen von Frau Lasarowicz übersetzen.

Am nächsten Tag wurde meine Freundin von der Sozialarbeiterin gefragt, ob sie auch noch andere Sprachen könne. Diesmal übersetzte sie für eine Polin, die zusammen mit ihrer Schwester, ihrem Mann und ihrem Sohn wegen Ladendiebstahl verhaftet worden war. Ihr drohten drei Monate Trennung von ihrer Familie in U-Haft. Sie hatte Lebensmittel und Kinderwäsche geklaut, aber der Supermarkt unterstellte ihr, Waren im Wert von 20.000 DM an sich gebracht zu haben. Vera freundete sich mit der Polin an. Nach und nach wurde sie so bei vielen Frauen beliebt, die nach ihr klopften oder riefen, wenn sie neue Zahnpasta, Bettwäsche oder ein Nachthemd brauchten. Sie dolmetschte in Jugoslawisch, Polnisch, Bulgarisch und Ukrainisch (ihrer Muttersprache), in Russisch, Englisch und Deutsch. Es gab auch etliche Deutsche, die sich nicht richtig mitteilen konnten. Viele Frauen unterschrieben auf alles, bloß um schnell rauszukommen. Damit verzichteten sie aber auf einen Anwalt, was meist ein großer Fehler war. Reguläre Dolmetscher, mit denen sie das hätten erörtern können, kamen nur alle paar Wochen einmal in den Knast. Bei Primo Levi, dessen Bücher in der Knastbibliothek standen, las Vera, dass es in Auschwitz durchweg so gewesen war, dass Häftlinge, die nicht wenigstens ein bisschen Deutsch oder Polnisch verstanden, verloren waren. Das sei bei vielen von Levis italienischen Mitgefangenen der Fall gewesen. „Die Frauen, die in Lichtenberg einfach unterschrieben, waren verloren!“ meint meine Freundin.

Wegen guter Führung wurde sie dann vier Tage früher entlassen. In der Zwischenzeit hatte man ihre Wohnung geräumt und dabei waren sämtliche Dokumente abhanden gekommen. Sie musste mühsam alle Ämter abklappern. Dann verliebte sie sich auch noch in einen Inder, der ein Restaurant in Babelsberg besaß, und fing an, in der S-Bahn auf den Fahrten zu ihmHindi zu lernen. Es war ihre achte Sprache und fiel ihr sagenhaft leicht.

Als sie einmal mit der U-2 zum S-Bahnhof Schönhauser Allee fuhr, merkte sie, dass ihr Fahrschein abgelaufen war. Zusammen mit einem Motz-Verkäufer stieg sie am Senefelder Platz aus, um sich einen neuen Fahrschein zu kaufen. Sie hatte jedoch nur noch 2 Mark. Der Motz-Verkäufer bot ihr dafür eine Zeitung und seinen Fahrschein an, der noch eine Stunde gültig war. Erleichtert stieg sie wieder ein, wurde dann jedoch von Kontrolleuren rausgeholt: Ihre Fahrkarte war gefälscht - mit Wachs überstempelt. Vera bekam eine Anzeige: „Betrug durch Fälschung eines BVG-Fahrausweises“. Sie wurde auf eine Polizeiwache bestellt.

Der sie vernehmende Kommissar klärte sie darüber auf, dass sie sich zur Tat äußern könne, aber nicht müsse. Sie erzählte ihm die ganze Geschichte. Der Beamte hörte aufmerksam zu und meinte am Schluss, ihre Ausrede klinge so unwahrscheinlich, dass er sie ihr glaube. Dann riet er ihr, sich ihre Sprachkenntnisse irgendwie zertifizieren zu lassen. Man würde in seiner Dienststellte laufend gerade solche wie sie brauchen und würde das auch gut bezahlen. Zweimal hat der Beamte sie bereits zu Hause angerufen und sich erkundigt, wie weit sie mit ihrem Zertifikat inzwischen sei. Außerdem gab er ihr die Adresse von einem Professor der Humboldt-Universität, der gerade mit Slawistikstudenten eine Arbeitsgruppe gründete, die kostenlos für inhaftierte Osteuropäer dolmetscht. LILLI BRAND