Mutterns Rache

DAS SCHLAGLOCH
von VIOLA ROGGENKAMP

Es wird wohl so sein, dass sich das Wort Sakrament aus den Worten sacer mens entwickelte. Sacer mens heißt wörtlich: heilige Menstruation. (Jutta Voss, christliche Theologin)

Da die Parthenogenese („unbefleckte Empfängnis“) nur weibliche Nachkommen hervorbringt, ist die Geschichte von der „Jungfrauengeburt“ eines männlichen Erlösers äußerst verdächtig. (Mary Daly, Philosophin)

Neulich in der Oper: „König Ödipus“ stand auf dem Programm. Passend zur Jahreszeit das Mutter-Sohn-Thema, Maria und Jesus, Jokaste und Ödipus. Blutrote Schleifenbänder, blutrote Weihnachtskugeln im Foyer. Die Vorstellung hatte noch nicht begonnen. Ich saß 3. Rang, Reihe 5, linker Außenplatz. Neben mir ein Ehepaar. Frau und Mann.

Sie: „Warst du jetzt beim Auspinseln bei Frau Doktor Schüssel?“ Er: „Übermorgen.“ Aus der Tiefe des Orchestergrabens stieg der Kammerton a zu uns hinauf. Aaaa. Der Mund ist weit geöffnet, das Holzstäbchen drückt die Zunge hinunter. Der untersuchende Blick der Frau geht in den geröteten Schlund des Mannes. Aaaa. Stimmen der Instrumente. Stimmen des Publikums.

Die Erwartung wuchs. Auch bei dem Ehepaar neben mir. Sie drückte seinen Arm. Er räusperte sich, sah gefasst nach vorn und auf die blutroten Fallen des geschlossenen Vorhangs. Sie guckte auf ihre Uhr, wann es endlich so weit sei und dass es noch nicht so weit war. Eine beglückend lustvolle Periode: kurz davor und doch noch nicht. Augenblicke später wurde der samtrote Raum von unsichtbarer Hand verdunkelt. Da sah der Mann rasch auf seine Armbanduhr, wie um zu kontrollieren, ob die Leute hier auch pünktlich anfangen.

In einer Situation, in der ein Mann keine Bedeutung hat, schafft er sich eine. Am dringlichsten muss er überprüfen, worüber er keine Macht und keine Kontrolle hat. Hinter dieser fixen Idee der männlichen Vorherrschaft wird es ziemlich kritisch aussehen um den Mann.

Eines der eindrucksvollsten Beispiele von Bedeutungslosigkeit gibt uns alle Jahre wieder der Mann Josef, der Zimmermann Josef aus Nazareth, der Gatte der Maria. So nennt ihn Meyers Konservationslexikon von 1897 taktvoll. Er habe seine Verlobte empört sitzen lassen wollen, als er bemerkte, dass „Marias Jungfrauenschaft verletzt“ war. Verletzt! Aber eben nicht von ihm. Von wem also?

Auf Josefs Angst, dieser Urangst des Mannes, das Neugeborene könnte von einem anderen sein, gründet sich folgerichtig eine der verbreitetesten Glaubenslehren der Menschheit: das Christentum. Im Judentum wurde die Frage, von wem das Kind ist, nach einer Kleinigkeit von über tausend Jahren Streiterei unter Männern ein für alle Mal geregelt. Das Kind ist von der Frau. Da, wo es herauskommt, von dort ist es. Ist die Mutter jüdisch, ist das Kind jüdisch.

Mutter Maria, Vater Josef und ein Kind namens Jesus. Eine jüdische Familie aus Nasrath, vierzig Kilometer östlich vom heutigen Haifa. Was diese jüdische Familie angeht, so haben wir keine Vorstellung von dem Vater des Kindes. Niemand hat ihn je gesehen, und Josef will es nicht gewesen sein.

Sehen wir auf die Mutter. Von Maria wissen wir, dass sie sehr belesen war. Ihr Name verrät noch mehr über sie. Maria, eigentlich Miriam, beinhaltet den hebräischen Wortstamm „M’ri“. Das bedeutet: Ungehorsam, Trotz, Widerstand. Alte Gemälde und Kupferstiche zeigen sie gern lesend. Josef konnte nicht lesen. Sogar hochschwanger reitend gen Bethlehem las Maria in einem guten Buch, während der Esel von ihrem Mann Josef am Halfter geführt wurde. Er war sehr viel älter als seine junge Frau. Sie hätte seine Tochter sein können und er ihr Vater. Er war es nicht und noch viel weniger war er der Vater ihres Kindes.

Christliche Männer haben später festgelegt und aufgeschrieben, von wem schwanger zu sein Maria angegeben hatte: von Gott. Was soll man dazu noch sagen? Ein Glaubensgewölbe wider besseres Wissen aufgetürmt über Josefs Scham, die Scham des Mannes, ein riesiger Hohlraum, der ausgefüllt sein will bis auf den heutigen Tag. Der Mann und seine Furcht vor der Potenz der Frau.

Kam frau nicht mehr dazu, das Neugeborene in ein Bastkörbchen zu legen, um es auf dem Fluss abtreiben zu lassen, damit eine andere das Baby fände, gab sie einen Gott als flüchtigen Kindsvater an. Aus persönlicher Not. Aus Angst vor dem eigenen Vater. War es ein Gott, fühlte sich der Vater von seiner Tochter nicht betrogen. Ein Gott? Nun ja. So einer kam gleich nach ihm. In der ägyptischen als auch in der griechischen Mythologie ist darum an Halbgöttern kein Mangel. Allesamt Wundertäter. Es ist anzunehmen, dass Maria, eine belesene Frau, sich von den Überlieferungen anderer Frauen inspirieren ließ.

Die Wunschvorstellung des Mannes, der einzige zu sein, Vater, Mann, Sohn, der Größte, könnte etwas anderes verbergen sollen: das Begehren der Frau, ihr Ausbruch aus der Familie. Auch Frauen gehen fremd. Schon immer. Kam die Frau zurück, hatte sie womöglich ein Kind. Weibliche Potenz. Eigenmächtig. Der Ehemann musste dran glauben. Ödipus erschlug seinen Vater und hatte mit seiner Mutter Jokaste vier Kinder. Alles nur unbewusst, selbstverständlich.

Maria bekam einen Sohn. Sie gebar sich ihren eigenen Mann. Kaum war der Sohn da, war Josef abgemeldet, und sie wurde immer jünger, auf jeden Fall wurde sie nicht älter. Er wurde älter, ihr Sohn. Alte Gemälde und Skulpturen zeigen den zum Mann herangereiften Jesus, ihn anhimmelnd eine gleichaltrige Frau, seine Mutter. Drumherum eine Schar alter Männer, das Traumpaar verzückt anbetend.

Tatsächlich wird nichts gesellschaftlich mehr verspottet und geachtet wie die ältere Frau mit dem sehr viel jüngeren Mann, der ihr Sohn sein könnte. Die Sehnsucht geht nach dem Verbotenen. Der ältere Mann, der die dreißig Jahre jüngere Frau heiratet, identifiziert sich mit ihrer Jugend und wird sich als ihr Sohn fantasieren.

Am schönsten in ihrem Schoß. Das ist sein Tod und seine Auferstehung. Hingabe. Wie eine Frau. Hingabe an die gesamte Christenheit. Hingabe an alle. Wie eine Prostituierte. Danach Vereinigung mit dem Vater. Am Ende das Männerpaar, eins werdend. Und zu Weihnachten fängt wieder alles von vorn an. Der Vatersohn beglückt die Mutterbraut.

Weihnachten wäre bestimmt nicht nach seinem Geschmack gewesen. Das Fest der Familie. Du lieber Gott! Jesus lebte mit Männern. „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist mein nicht wert.“ Solche Sprüche! Genützt hat es ihm gar nichts. Gänsebraten, Weihnachtsbaum, Bescherung. Weihnachten ist Muttertag. Sein Geburtstag gehört ihr. Weihnachten opfert Mutter sich auf, noch bevor er damit dran sein wird und glänzen kann.

Die deutschen Mütter haben es sogar auf drei Tage gebracht. Weihnachten geben sie sich hin, der ganzen Familie, Tage vorher schon basteln und singen sie, wickeln Geschenke ein, versprühen Frohsinn und Erwartung, braten, backen, kochen mit Herzblut bis zur Erschöpfung. Und das alles, obwohl die meisten Frauen aus dieser Situation am liebsten weglaufen würden. Ganz weit weg, vielleicht zu einem Liebhaber oder zu einer Liebhaberin.

Artikelhinweise:Eines der eindrucksvollsten Beispiele von Bedeutungslosigkeit gibt uns alle Jahrewieder der Mann JosefMaria beinhaltet den hebräischen Wortstamm „M’ri“. Das bedeutet: Ungehorsam, Trotz, Widerstand

Autorenhinweis:Viola Roggenkamp lebt als freie Publizistin in Hamburg