Café Kranzler ist zum Piepen

Im neuen Café ist Platz für nur 70 Kuchenliebhaber. Die Rotunde verliert sich in dem 70.000 Quadratmeter großen „City Quartier Neues Kranzler Eck“ mit Volieren

Geblieben sind nur die alte Marmortreppe, die weiß-roten Markisen und der geschwungene Schriftzug. Ansonsten hat das neue Café Kranzler, das nach zwei Jahren Umbauzeit seit heute morgen wieder mit Sachertorte und Baiserkuchen lockt, mit dem alten nichts gemein.

In der ersten Etage, wo vorher Kaffee, Kardinalschnitten und Esterhazy-Schnitten für 450 Gäste serviert wurden, wird jetzt „gehobene Damenoberbekleidung“ angeboten. Der Schriftzug von Gerry Weber, dem Modeunternehmer aus Ostwestfalen, der das Café betreibt, ist dreimal so dick wie der vom Kranzler. Um mehr Platz für Kleiderstangen und Regale zu haben, wurde das Café kurzerhand in die darüber liegende Rotunde verbannt, wo früher Möbel gelagert wurden – und wo gerade mal 70 Gäste reinpassen. Im Sommer bietet eine umlaufende Terrasse Platz für weitere 60 Kuchenliebhaber. Mit Wiener Patisserie mit gleichen Preisen wie zuvor soll zum einen an die 175-jährige Historie des Ortes angeknüpft und zum anderen die ältere Klientel bei Laune gehalten werden. Mit einer Cocktailbar, die zwischen 17.30 und 2 Uhr in der Rotunde geöffnet ist, soll zudem „eine Brücke zwischen Alt und Neu“ geschlagen werden, wie es so schön heißt.

Eigentlich war das Café gestern noch gar nicht fertig. Doch weil die Deutsche Immobilienfonds AG (DIFA) das „City Quartier Neues Kranzler Eck“, einen 70.000 Quadratmeter großen Komplex zwischen Kantstraße, Joachimstaler Straße und Ku’damm offiziell einweihte, musste es zumindest pro forma aufmachen. Offizielle Einweihung soll erst am 11. Januar 2001 sein. Bis dahin, so wurde gestern versichert, gebe es bereits einen regulären Betrieb.

Das Kranzler verliert sich in seiner Miniaturausgabe vollkommen in dem 716 Millionen Mark teuren „City Quartier“, das von dem Stararchitekten Helmut Jahn entworfen wurde. Fast 100.000 Quadratmeter Mietfläche, 560 Autostellplätze, ein Wellness-Center samt Open-Air-Joggingbahn auf dem Dach, jede Menge Modegeschäfte, eine Post und ein „Kunst-und-Event-Hof“ bestimmen unter dem Begriff „Erlebensraum und Marktplatz der vielfältigen Möglichkeiten“ das Bild. Und den Ton geben Vögel an. Genauer gesagt 110 Wellen-, Ziegen-, Halsband-, Pennant- und Felsensittiche, Prachtrosellas, Mandarinenenten und Goldfasane aus China, Chile, Afrika, Japan, Australien und Ostsibirien, die in zwei fast zwanzig Meter hohen Volieren ihr Dasein fristen. Nach Difa-Angaben sind es die modernsten Volieren in Europa. Während noch völlig unklar ist, welche Spezies das neue Café Kranzler bevölkern wird, soll das exotische Federvieh mit Sonnenschutzjalousien, Isolierglasfenstern, Wärme-Kälte-Isolierung, Wandheizung und elektrisch beheizbaren Tränken bei der Stange gehalten werden. Eine 74-jährige Dame, die seit ihrer Jugend Sachertorte im Kranzler genießt, war gestern skeptisch: „Die Menschen werden immer anspruchsvoller. Es muss immer schöner, höher, weiter sein.“ Das „Rundherum“ des Kranzler befand sie zwar als „gut“. Doch: „Die Enge in der Rotunde imponiert mir nicht.“

B. BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA