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gefühltes alter – geschichtetes alter

von KATHRIN PASSIG

Man wird ja an unterschiedlichen Körperteilen unterschiedlich schnell erwachsen. Damit meine ich nicht nur den Umstand, dass der Kopf bereits Falten bekommt, während die Füße noch Turnschuhe mit Dinosauriermotiven tragen wollen. Anfangs ist die Ontogenese sowieso hauptsächlich damit beschäftigt, mühsam die Phylogenese zu rekapitulieren, weshalb ganz junge Menschen oft noch ein Ökobeutelchen oder einen Fransenrock haben, die erst auf einer höheren Entwicklungsstufe wieder abfallen.

Später wird dann alles noch undurchschaubarer. Das Erwachsenwerden durchdringt die Gesamtperson in der gleichen schlecht geordneten Weise, wie ganz unterschiedliche Erdzeitalter manchmal durchaus nebeneinander stattfinden wollen. „Denn mehr als einmal kommt es ja vor, dass eine Schichtfolge durch tektonische Bewegungen buchstäblich auf den Kopf gestellt ist; dann liegt das Jüngste zuunterst, das Älteste oben drauf“, weiß das DDR-Buch „Geologie für jedermann“. Oben drauf liegen bei mir nach einer flüchtigen Zwischeneiszeit ums zwölfte Lebensjahr herum schon seit geraumer Zeit wieder Westernhefte, Frühstücksflocken-Sammelbildchen und Brillen, mit denen man andere Menschen nackt sehen kann.

Nur selten schichtet die Plattentektonik der Psyche halbwegs sinnvolle Entwicklungen aufeinander, wie die Fähigkeit, angebotene Drogen auch mal abzulehnen, weil man zum Beispiel eh schon randvoll mit Bier ist (25 Jahre), am nächsten Tag früh aufstehen muss (30) oder insgesamt eigentlich keine Lust mehr auf Drogen hat (über 30). Die Bereitschaft, ausgiebig und schamlos zu husten, wenn einem jene Drogen in den falschen Hals geraten, ist zwar eins der Leitfossilien dieser Lebensalter, zur gleichen Zeit jedoch mögen sich anderswo steile Gebirgsformationen des Peinlichkeitsempfindens auffalten.

Außerordentlich peinlich wird es etwa, Aufsätze über Hermann Hesse zu schreiben, eine Fähigkeit, die sich jenseits der 20 zu einem unansehnlichen Wurmfortsatz zurückbildet. Das weiß ich, seit ich mich neulich in der Seepferdchen-, nein, in der Magisterprüfung zu Hesses Kritik am Erziehungssystem äußern musste. In der Folge übte das Erziehungssystem scharfe Kritik an mir, in Form einer Note, die mir bisher nur aus dem Sportunterricht bekannt war. Einen ganzen Nachmittag fühlte ich mich als akademischer Versager, aber zum Glück war die Schmach schnell vergessen, da mein Gedächtnis bereits im Rentenalter angekommen ist. So gern würde ich mir F.W. Bernsteins „Terzinen über die Vergesslichkeit“ merken können, aber es geht nicht. Nur noch Bruchstücke wie „wie kann es sein, dass diese nahen Tage / Dings sind, für immer fort und schnirgel schnargel“ bleiben hängen. Zahnlos (gefühltes Gebiss-Alter: 85) und verwirrt murmle ich sie vor mich hin, während ich mit den unmündigen Neffen hohe Lego-Duplo-Türme zum Einsturz bringe. Dann jauchzen wir und patschen in die Hände. „Transgression und Regression sind vielfach Anfang und Ende einer Formation.“

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