Weiße Weste wie ein Neugeborener

Die Amnestie macht’s möglich: Ein ehemaliger Anführer des bewaffneten Arms der Islamischen Heilsfront (FIS) verklagt den Herausgeber der größten algerischen Tageszeitung „El Khabar“ – weil er sich verleumdet fühlt

„Die Welt steht Kopf. Der Henker wird zum Opfer“, beschwert sich Ali Djerri, Herausgeber der größte algerischen Tageszeitung El Khabar und deren wöchentlich erscheinenden Schwester El Khabar Hebdo. Der ehemalige Emir – Anführer – der Truppen der Armee des Islamischen Heils (AIS) im Westen des Landes, Ahmed Benaicha, fühlt sich von einem Artikel verleumdet. Der Text, der am 22. November im Hebdo erschien, handelte vom Terrorismus in Algerien und der heutigen Situation der seit Januar amnestierten ehemaligen Untergrundkämpfer der AIS, dem bewaffneten Arm der verbotenen Islamischen Heilsfront. Illustriert wurde die Doppelseite mit einem Foto Benaichas, auf dem er mit Kalaschnikow zu sehen ist.

„Der Tatbestand der Diffamierung ist gegeben, da die Ehre eines algerischen Bürgers angegriffen wurde, der im vollen Besitz seiner bürgerlichen Rechte ist und soziales Ansehen genießt“, heißt es in dem Schreiben, das Benaicha beim Gericht in Algier eingereicht hat. Diesem Dokument legte der ehemalige Guerrillaführer ein polizeiliches Führungszeugnis vom 17. Dezember 2000 bei. Dank der Amnestie, die den AIS-Kämpfern nach ihrer Aufgabe zuteil wurde, ist Benaichas Akte so weiß wie die eines Neugeborenen.

Benaicha war einst selbst für die FIS zum Bürgermeister von Chlef gewählt worden. Nach seiner Amtsenthebung durch die Armee schloss er sich dem Untergrund an, wo er schnell in eine Führungsposition aufstieg. 1993, nach dem Zusammenschluss der bis dahin autonom agierenden islamistischen Untergrundgruppen zur AIS, wurde Benaicha Emir des Westens und damit die Nummer 2 hinter dem Nationalen Emir Madani Mezrag.

Seine Truppen überzogen die Region nicht nur mit gezielten Attentaten auf Polizeibeamte und Soldaten. Sie brannten Schulen nieder, sprengten immer wieder die Zugstrecke von Algier nach Oran und machten die parallel dazu verlaufenden Nationalstraße unsicher. Des öfteren explodierten Bomben an viel frequentierten Bushaltestellen. Die Angstkampagne sorgte dafür, dass die Leute nach 16 Uhr ihre Wohnungen nicht mehr verließen und die Frauen ohne Ausnahme den Schleier anlegten.

Doch über all das zu schreiben, das ist heute für Benaicha „üble Nachrede und Rufschädigung“. Am meisten aber ist El Khabar-Herausgeber Djerri über die algerische Justiz erstaunt: Am selben Tag, an dem Benaicha die Klage einreichte, wurde Djerri eine Vorladung zur Verhandlung am 10. Januar 2001 zugestellt. Eine wahrer Geschwindigkeitsrekord für die als langsam bekannten algerischen Richter.

Djerri bittet um Solidarität: „Diese Prozess betrifft nicht nur El Khabar, sondern die gesamte Zivilgesellschaft, die ausharrt und sich gegen einen religiösen Staat und andere undemokratische Formen, die Algerien aufgedrückt werden sollen, zur Wehr setzt.“ REINER WANDLER