Huch, ein Phänomen

Die neuen Quizshows bieten den monetären $uperorgasmus. Ob das etwas mit dem Turbokapitalismus oder der Ellbogengesellschaft zu tun hat? Das will doch keiner wissen

Die neuen Quizshows funktionieren im Innersten auch als Soapoperas mit Helden und Schurken

Ein paar bunte Pelzmonster lallen für Nachwuchsfernseher im Windelalter; eine Gruppe von uninteressanten Menschen lässt sich in einem Container einsperren; in so genannten Talkshows keifen sich zerstrittene Paare an. Und pflichtschuldigst eilen die Damen und Herren Redakteure auch der „seriösen“ Zeitungen ans Telefon, um ihre Kritiker an die Textcomputer zu scheuchen, die pflichtschuldig wahlweise von „Skandal“ rumoren oder ein neuestes sozialpsychologisches Phänomen analysieren. Wenn das Fernsehen nicht ständig solche „Phänomene“ produzieren würde, wäre es nicht mehr vorhanden oder doch nur so wie eine Ikea-Leuchte vor einer Strukturfasertapete. Aber natürlich kann die Kritik auch nicht Phänomen mal Phänomen sein lassen, um das Gewöhnliche in Augenschein zu nehmen. Die Kritik ist hinter dem verdammenswerten Phänomen her wie der diskursive Hase hinter dem Stimmungsigel. Normal, ey! Sonst liest ja wieder kein Schwein.

Jetzt haben wir ein neues TV-Phänomen. Ausgerechnet etwas, das uns schon auf die Nerven gegangen ist, als wir noch nicht mal einen Fernseher besessen haben: die Quizshow. Du lieber Himmel!

Die vernetzten Bildschirme bilden ein ganzes Meer der Langeweile, das wir durchkreuzen auf der Suche nach Inseln der Faszination. Sind sie gefunden, stürmen alle an Land, und was immer es dort zu sehen gegeben hätte, ist in kürzester Zeit niedergetrampelt, aufgefressen, verdaut und verbrannt. Heda! bemerkt dann jemand: Was soll denn an dieser Insel so faszinierend sein? Hier ist es so fad wie überall. Also lasst uns wieder in See stechen; dahinten, am Horizont des Meeres der Langeweile: Das muss sie sein, die Insel der nächsten Faszination.

Jetzt also das „Quiz“. Klar, die Älteren unter uns wissen genau, dass wir dieses gottverdammte Eiland schon dreimal angesteuert haben. Das erste Mal, als es noch aufregend war, überhaupt ein Schiff zur Reise auf dem Meer der Langeweile bekommen zu haben. Damals versprach uns das Quiz die Versöhnung zwischen Abenteuerlust und Biedersinn. Die Quizinsel steckte voller nachsichtiger Pauker, die für unser Wissen kleine Geschenke parat hatten. Das Klassenzimmer war auf Gemütlichkeit getrimmt. Hinterher durften wir, weil wir brav mitgeraten hatten, auch den Krimi sehen.

Bei unserem zweiten Besuch, es war in den Siebzigerjahren, fand sich die Situation schon etwas verschärft. Jetzt besuchte man blinkende Laboratorien des Wissens, die einst so freundlichen Pauker versteckten nur unvollkommen ihren Sadismus hinter der Grinsemaske, und die Fragesituation wurde mit Thrillelementen aufgepeppt. Die Quizmaster sahen aus wie der Chef der Serviettenfaltabteilung in der Vorstandskantine von BMW. Vor allem aber ging es wirklich um Geld in diesem so „heiteren Spiel für gescheite Leute“ (was natürlich vom ersten bis zum letzten Wort gelogen war), wenn man zum Beispiel wusste, „wann der Pariser Mob die Bastille gestürmt“ hat.

Nach leichtem Schmuddelwetter führten uns die Wellen der Privatisierung ein Jahrzehnt darauf ein drittes Mal an die Quizinsel, die ihre Attraktion jetzt allerdings vor allem als „Game Show“ bezeichnete. Ganz offenbar aber stand die Hysterie der Beteiligten in keinem allzu günstigen Verhältnis zu den idiotischen Konsumartikeln, die man gewann, wenn man ihren Preis aufsagen konnte. Marktintelligenz statt Bücherwissen, belohnt mit dem Abfall der postindustriellen Produktion.

Jetzt also sind wir schon wieder hier! Doch schaut euch nur das Gesicht von Günther Jauch an! Der weiß doch selber nicht, ob er einen ewigen linkischen Zwei-bis-Dreier-Schüler gibt, in dem eine echte Mediensau verborgen ist, oder umgekehrt. Ulla Kock am Brink hat solche Transitionsprogramme nicht nötig; sie drückt genau das aus, was sie vermittelt: „Eine Million – das ist doch die erotischste Zahl der Welt.“ Seltsame Vorstellung von Erotik! Bei Jauch geht es ebenfalls um diese Zahl, bei Milena Preradovic um 1,5 und bei Kai Pflaume („Die Chance deines Lebens“) gibt’s den monetären Superorgasmus bei zehn Millionen. Aber den hält eigentlich niemand mehr aus; die Gewinner zerplatzen genauso wie die Verlierer, wenn nicht vorher zwischen ihnen der Geldtraum zerplatzt ist.

Sollen wir euch die Faszination noch näher erklären?, fragen wir Kritiker. Wie das mit dem Turbokapitalismus und der Ellenbogengesellschaft zusammenhängt, mit dem Aktienboom und der Rentenreform? Oder sollen wir euch etwas von der selbstentäußernden Rache des Bildungsbürgertums erzählen, das sich klammheimlich wieder an die ökonomische Macht quizzt? Oder davon, dass das nur eine Maskierung für etwas ist, das noch nie so deutlich im Zentrum gestanden hat? Nämlich der Gier. Und so heftig, dass man diesmal nicht einmal mehr auf einen guten Zweck im Hintergrund rekurieren mag. Wenn man durch „Wissen“ Millionen verschieben kann, wie anderswo durch „Anlage“, dann will man sich das nicht durch die „Aktion Sorgenkind“ verwässern lassen wie bei Wim Thoelke selig, und mit den konsumistischen Peanuts der „Game Shows“ geben wir uns auch nicht mehr ab: Wir wollen CA$H, die Sache an sich, zwischen den Werbeblöcken. Wollt ihr nicht wissen, was aus der alten Aufklärung geworden ist?

Ach nö, danke, murmeln die Reisenden auf dem Meer der Langeweile, strömen wieder massenweise auf die Insel der Faszination. Niemand will was von den Mahnungen wissen: dass nur die Produzenten und Moderatoren wirklich reich werden und vielleicht noch ein paar Trittbrettfahrer (bei Dino Entertainment kann man das praktische Buch „Werden Sie Quiz-Millionär“ für 16,90 Mark erwerben). Das Ganze ist längst mehr Show als Quiz.

Ulla Kock am Brink verrät auch das Neue an den neuen Quizshows: „Die Möglichkeit zur Identifikation oder Ablehnung, nicht des Moderators, sondern des Kandidaten.“ Mit anderen Worten: Die neuen Quizshows funktionieren im Innersten auch als Soapoperas, mit Helden und Schurken, mit Stars und funny sidekicks. Ohne jemandem direkt zu nahe zu treten: Allein diese „Unterhaltungsabsicht“ legt verteufelt nahe, die Quizshow möglichst nicht ganz dem Zufall oder dem realen Wissen der Kandidaten zu überlassen. Das geheime Wissen um die innere Struktur dieser Veranstaltung war vor zwanzig Jahren eine spielverderberische Geste intellektueller Kritiker; sie ist nun Allgemeinwissen. Daher benötigen wir auch eine Kritik, die eben nicht sagt: Das Zeug ist kalter Kaffee, sondern: Huch, ein Phänomen.

Dabei wird die Dramaturgie durch Fragen geprägt, die ungefähr so funktioniert wie die Inhalte von Überrraschungseiern und Sammelbildtütchen: Von zehn Fragen sind zwei, die wirklich jedes Kind beantworten kann, und zwei, die eigentlich fast niemand beantworten kann. So wie man beim Bildersammeln sich wundern mag, dass man die einen Bilder haufenweise bekommt und das eine, das einem den ersehnten Erfolg brächte, ums Verrecken nicht.

Dürfen wir so etwas schon Betrug nennen? Natürlich nicht. Es ist ein Spiel, in das zum Beispiel laut Hör Zu eine „Expertin“ eingreift, indem sie herausgefunden haben will, dass immer, wenn sich Jauch mit einem Lächeln in die Werbepause verabschiedet, die Kandidaten richtig geantwortet haben. Quizfragen nach angewandter Jauchologie, Kock-am-Brink-Watching? Die Psychologisierung jedenfalls verschiebt die Gewichte vom Kandidaten als Extremsituationist zum Moderator, und den Job des Kritikers machen die Zuschauer längst selber.

Die vernetzten Bildschirme bilden ein Meer der Langeweile, auf dem wir Inseln der Faszination suchen

Was zum Verlassen der Quizinseln führt, ist nicht bloß der Überdruss. Wenn einer eine Million gewonnen hat, dann ist das ja durchaus aufregend. Wenn der zweite eine Million gewonnen hat, kommt’s drauf an, ob man zu diesem Menschen eine gute Geschichte bekommt. Beim dritten, naja. Wo, sagtest du, liegt die nächste Insel? Leichter wird einem der Abschied, weil die Bewohner der Quizinsel ihre Attraktion mit schöner Regelmäßigkeit selber in die Luft jagen, nämlich indem sie zulassen, dass man kapiert, dass hinter dem spannenden Wettkampf eigentlich nur eine geschickte Regie stand.

Jede Renaissance des Quizformats endet mit einem Betrugsskandal. Es ist nur eine Frage des Timings: Hat nicht da eine Verwandte des Königshauses durch offenkundig leichte Fragen gewonnen? Leider sehr, sehr britisch, das. Und ganz wichtig ist: Die Manipulation darf erst herauskommen, wenn das Format schon verbraucht ist. Aus dem Betrugsskandal wird ein schönes Abschiedsfest.

Und dann geht es wieder hinaus. Auf das verfluchte Meer der Langeweile. Ach, wäre ich doch Literaturkritiker geworden.

GEORG SEESSLEN