Mehr als eine Wurmattacke

Im Jahr 2000 überfielen Regenwürmer das Olympiastadion, Franziska van Almsick hat einen neuen Lover, Svetislav Pesic verließ Alba Berlin, und beim Hauptstadt-Marathon liefen zwei Jogger in den Tod – die taz zieht eine Sportbilanz

Am Wilden Eber werden die Oberschenkel zum Feind des Joggers

von MARKUS VÖLKER

Der Versuch, Götterspeise an die Wand zu nageln, ist, angesichts der Aufgabe, das Berliner Sportjahr zu bilanzieren, ein aussichtsreiches Unternehmen. Auch hält sich hartnäckig die Meinung, das sportive Geschehen 2000 ließe sich kurz und knapp zusammenfassen – wobei noch Platz für die Tabellen sämtlicher Fußballligen der Hauptstadt bliebe. Es ist nämlich so: Was dem Trägen ein Ironman-Triathlon, ist der Zeitung der Rückblick. Das Gebot der Branche heißt: Vorausblicken, ahnen, antizipieren. Eine beliebte Zeitform ist das Futur II. Der Duden, hierbei werde die Feststellung des Vollzugs einer Handlung auf einen Zeitpunkt in der Zukunft bezogen, inklusive eines klitzekleinen Moments der Unsicherheit. Es wird gewesen sein.

Ein Beispiel: Am 4. März 2001 wird Hertha BSC durch eine weitere Niederlage und dem Einzug in den modrigen Tabellenkeller derart deprimiert gewesen sein, dass dem völlig verunsicherten Trainer Jürgen Röber sein Mantra „Also unterm Strich haben wir ganz gut gespielt“ endgültig im Halse stecken geblieben sein wird und er fürderhin Pressekonferenzen mit einer Lesung aus Alfred Kerrs „Wo liegt Berlin?“ beginnt, etwa mit den einleitenden Worten: „Der Berliner Westen – diese elegante Kleinstadt, in welcher alle Leute wohnen, die etwas können, etwas sind und etwas haben und sich dreimal so viel einbilden, als sie können, sind und haben – hat in dieser Woche ...“ Und so weiter. Doch konzentrieren wir uns zunächst aufs Vergangene.

Was war, ist schnell erzählt.

Das Frühjahr begann mit einer Wurmattacke im Berliner Olympiastadion. Der gemeine Regenwurm entdeckte die Arena als ideales Biotop und durchpflügte den Humus nach Leibeskräften. Hertha BSC glaubte kurz, nun die ideale Entschuldigung für holprige Auftritte zu haben, diffamierte den Wurm, trat aber schon am nächsten Tag mit dem hehren Versprechen an die Öffentlichkeit, den Wurm in Hinkunft sanft ruhen zu lassen (Pestizide) und also schöner spielen zu können. Weil das trotz ballliebkosender Fachkräfte wie Stefan Beinlich nur teilweise gelang, will Hertha im kommenden Jahr seine Abteilung für Kleinsttiervernichtung verstärken. Da sind Leute ablösefrei zu bekommen.

Seit Franziska van Almsick ihre Zelte in Prenzlauer Berg aufschlug, war das Gerücht nicht zu entkräften, sie hätte mit Currywurst-Konnopke von der Schönhauser den Big Deal geschlossen. Während sich andere Olympiateilnehmer mit Eiern der Chinesischen Sumpfschildkröte oder Augenextrakt der Schwarzen Mamba präparierten, wurde der Schwimmerin nachgesagt, sie ordere an der Wurstbude im Akkord: „Drei Curry, ungeschnitten und zweimal Pommes, weiß.“ Es verwunderte daraufhin nicht, dass sie von der Schlagzeile „Franzi van Speck“ heimgesucht wurde. Bleibt zu hoffen: dass das Brät nicht wahnsinnig kontaminiert war, was eingedenk ihres neuen Lovers, Punkballer Stefan Kretzschmar, auch schon wieder egal ist. Sie wissen: Kretzschmar, der epidermale Problemfall.

Alba Berlin wiederum hat seine Fans schwer enttäuscht. Svetislav Pesic ging. Einige Journalisten, von den Anhängern ganz zu schweigen, tragen immer noch schwarz und kramen in ihren Kisten nach Tonbändern, die die legendären Monologe des Serben festhalten. Unter dem Neuen, Emir Mutapcic, ein redlicher und guter Mann, ist die lakonische Aussage zum Stilmittel der Wahl erhoben worden. Unter Pesic ergoss sich dagegen ein Schwall kalorienreicher Assoziationen über die nach Futter lechzenden Berichterstatter. Auch das Team von Alba ist nur noch ein Torso, der hier zu Lande die Konkurrenz aber jederzeit in Grund und Boden spielt. Deshalb erwägen Vertreter der Basketball-Bundesliga, dem Beispiel der spanischen Paraolympioniken zu folgen – allerdings seitenverkehrt – und Alba ein paar unfähige Dribbler unterzujubeln.

Schon nähern wir uns Kilometer 38 des Berlin-Marathon. So richtig zur Sau gemacht wurden die tausenden Starter wieder mal am Wilden Eber, dort, wo die Oberschenkel zum persönlichen Feind des Joggers werden und der Schmerz so ins Fleisch beißt, dass jeder Kannibale herzlich willkommen ist. Zwei Wackere kamen aber gar nicht so weit. Sie liefen direkt in den Tod, freilich mit den selig machenden Endorphinen im Blut.

Das war, so ungefähr, das Sportjahr. Was kommt?

Die Vorschau: Franzi wird solch ein Pummel geworden sein, dass sie bei Arabella zum Thema „Fett am Morgen, fett am Mittag, fett am Abend“ eingeladen und gekommen sein wird. Ihr Lover, mittlerweile Ex, wird mit Laserstrahlen Franzis Gesicht aus der Wade gebrannt haben. Der Schwindel mit den minderbegabten Korbwerfern wird aufgedeckt worden sein und Alba in die schwerste Krise seiner kurzen Geschichte gestürzt sein. Am Rande des Berlin-Marathons werden neben den Ständen für Power-Drinks und Mega-Müslis Bestattungsunternehmer Posten bezogen haben. Und Jürgen Röber wird so begeistert von der Lektüre Alfred Kerrs gewesen sein, dass er schon am 10. März (nach nur einer Woche!) der staunenden Menge den Schluss offenbart haben wird: „Auch muss ich die weitere Zusendung von Futtermaterialien freundlich, aber entschieden ablehnen. Der Fisch ist ganz gesund.“

Die taz widmet sich derzeit Jahresrück- und -ausblicken. Gestern war die Kultur dran, morgen ist es die Politik