spurensuche
: Die jäh beendete Karriere eines Skispringers

Leben nach dem Absturz

Mario Benecken liebt die Vierschanzentournee. Als Skispringer war sie für ihn schon immer der absolute Saisonhöhepunkt. Einmal nahm er als Nachwuchshoffnung selbst an diesem Wettkampf teil. Die Konkurrenz ließ ihm bei seiner Premiere keine Chance, aber irgendwann wollte er richtig weit nach vorne springen. Doch der Wunsch, die anderen Skispringer auf den schönsten Schanzen der Welt zu bezwingen, erfüllte sich nie. Alle seine Zukunftspläne in der Skisprung-Szene fanden an einem Nachmittag 1986, ein Jahr nach seiner ersten Vierschanzentournee-Teilnahme, auf einer anderen Schanze ein jähes Ende.

Es geschah in Kanzlersgrund. Böig heulte der Wind über die Schanze des thüringischen Ortes. Der 19-Jährige Mario Benecken sollte als zweiter Vorspringer die Thüringen-Tournee einläuten. Als Mitglied der Junioren-Nationalmannschaft der DDR war dies kein größeres Problem. Immerhin galt er als Hoffnungsträger des Armeesportklubs Oberhof und hatte berechtigte Erwartungen auf eine Teilnahme bei der Junioren-WM in den USA eine Woche später. Nur ein Sprung trennte ihn von der großen Reise – ein Sprung, der alle überzeugen sollte, dass er der Geeignete sei, den sozialistischen Staat gebührend zu vertreten. Doch der Wind, des Skispringers größter Feind, blies heftig und wechselte ständig die Richtung. „Trainer, ich habe Angst“, offenbarte Mario noch kurz vor dem Absprung. Doch die Funktionäre wollten ihn springen sehen. Kaum in der Luft, bekam er eine straffe Böe von hinten, die ihn hoch hinaus katapultierte, doch plötzlich drehte der Wind, blies nun von vorn, sodass eine Skispitze mit brutaler Wucht gegen seinen Kopf schlug. Mario fiel wie ein Stein vom Himmel und knallte mit dem Kopf zuerst auf den schneebedeckten Aufsprunghang. Ein Schädelbruch, Herz- und Atemstillstand waren die Folge, der Kopf war blau, die Augenhöhlen blutig, erinnert sich ein Sportkamerad.

All das ist nun 14 Jahre her. Inzwischen ist Mario Familienvater und arbeitet als Physiotherapeut im Oberhofer Sportgymnasium und an der Bewältigung des tragischen Ereignisses. „Manchmal laufe ich wie besoffen umher“, meint der mittlerweile 33-Jährige. Die Gleichgewichtsstörungen dauern fort, er lebt mit 50 Prozent attestierter Körperschädigung. Sport kann er nur stark dosiert treiben. „Ich habe das alles längst akzeptiert. Auch wenn ich ein bisschen mehr Geld erwartet hätte.“ 3.500 Mark zahlte ihm der Deutsche Turn- und Sportbund (DTSB) der DDR als Entschädigung. Auf eine Entschuldigung seitens der Funktionäre wartete er vergeblich, obwohl sie ihn praktisch gezwungen hätten, bei diesen Windverhältnissen zu springen, so Benecken.

Beneckens zweites Leben begann mit der erfolgreichen Reanimierung. Am siebten Februar, dem Tag, an dem sein erstes Leben aufhörte, stößt er jedes Jahr mit seiner Frau auf ein Glas Sekt an. „Man mag es nicht verstehen. Aber das Skispringen fasziniert mich noch immer. Auch wenn ich deswegen Medikamente schlucken muss, eine Epilepsie habe und ein Ventil im Kopf trage“, erklärt er. Neulich war er als Tourist in Tschechien, in Harrachov auf der Skisprungschanze. Er stand ganz oben, da wo er früher immer abgesprungen war. Der Wind blies mäßig. Gedacht hat er: „Jetzt noch einmal springen!“ Enttäuscht fügt er an: „Die Ärzte haben es leider verboten.“

So bleibt ihm nur noch ein anderes Skisprung-Highlight, und das ist die Vierschanzen-Tournee. Ab heute, wenn die Springer beim Auftakt in Oberstdorf durch die Lüfte segeln (13.45 Uhr, RTL), sitzt er vor dem Fernseher in seiner kleinen Klinik in Oberhof und drückt die Daumen. Es klingt paradox, aber das ihm durch das Skispringen zugefügte traumatische Erlebnis kann er am besten bei der Vierschanzentournee vergessen – der Passion auch seines zweiten Lebens.

CHRISTOPH BERTLING