Im Kaleidoskop des Krieges

Nach und nach kämpft im Masisi jeder gegen jeden: Bahunde gegen Hutu gegen Tutsi. Die Verlierer sind die Flüchtlinge, die in die Region zurückkehren

aus den Masisi-Bergen DOMINIC JOHNSON

Es gibt nichts Schöneres als einen tropischen Bergwald im Regen. Es brodelt und kocht, aus den tiefen grünen Tälern quirlt Dampf die steilen Abhänge hinauf. Zwischen düsteren Bäumen, deren Spitzen in den Wolken zu verschwinden scheinen, sprühen warme Tropfen durch die Luft. Man ahnt, wie klar sie hinterher sein wird, wenn der Sturm sich verzogen hat und der Nebel sich von den Schluchten wälzt.

Es gibt nichts Schrecklicheres als einen tropischen Bergwald im Regen. Der Boden verwandelt sich in einen schlammigen See, die Piste ins Tal wird zum Sturzbach und der Berghang verkommt zu einem rutschigen Gefängnis unter freiem Himmel. Zwischen Zweigen und Plastikplanen läuft an allen Ecken und Enden Wasser in die Unterschlüpfe der Flüchtlinge, die Tropenluft verwandelt sich nach einigen Stunden in heimtückische Kälte und sogar die Ziegen kauern dann zitternd im Wartezimmer der Gesundheitsstation.

Emmanuel Rwamakuba hat sich ein Badetuch über das gelbe T-Shirt geworfen und hält Hof auf seinem Bettgestell, wenige Zentimeter über der nackten, nassen Erde in seiner kaum vier Quadratmeter großen Hütte. Der junge, athletische Leiter des Lagers Kirolirwe, hoch in den Masisi-Bergen des östlichen Kongo, bleibt freundlich, als er – sicher nicht zum ersten Mal – sagt: „Die internationale Gemeinschaft muss eingreifen. Im Kongo verhungern die Leute.“

Emmanuel Rwamakuba sah seine Heimat zuletzt am 4. April 1996. An diesem Tag, erinnert er sich, besetzten Hutu-Milizionäre aus Ruanda, die so genannten Interahamwe, sein Bergdorf Nyakabande, in dem ruandischsprachige kongolesische Tutsi lebten. Sie flohen nach Ruanda. Aber glücklich wurden sie dort nie. Seit einigen Monaten kehren sie in den Kongo zurück – in ein Land, das sie noch viel verwüsteter wiederfinden, als sie es verließen. „Mein Dorf gibt es nicht mehr“, hat Rwamakuba inzwischen von ehemaligen Nachbarn gehört. „Es ist zu Wald geworden.“

6.723 Rückkehrer wohnen inzwischen in Kirolirwe. Sie kommen aus dem Exil heim ins Nichts, und in diesem Nichts, auf dem verregneten Berg, ist ein Hüttendorf entstanden – mit dem guten Willen der lokalen Behörden und des Militärs, der Bauern der Gegend und der hiesigen Großgrundbesitzerin. Das Land ist zum Teil umgegraben, hier und da sprießt ein wenig grünes Gemüse. Aber zum Überleben sind die Menschen auf Hilfslieferungen angewiesen. Und die kommen zu selten.

Größtes Gebäude von Kirolirwe ist eine große, fast leere Lagerhalle mit einer grünen UNHCR-Plastikplane als Dach. Sie enthält genau 102 Säcke mit Lebensmitteln und Saatgut, das macht zusammen 5.100 Kilogramm. Das muss ein paar Wochen lang für 6.723 Menschen reichen. Das wird es aber nicht.

Emmanuel Rwamakuba erinnert sich noch gut an die Rückkehr in sein Heimatland. Es war am 24. Juli. „Der Gouverneur hat uns an der Grenze empfangen. Wir waren 635. Das Gouverneursamt hat uns hierhergebracht.“ So ganz freiwillig hocken die fast 7.000 Rückkehrer also nicht auf diesem Hügel. Wie es heißt, war das Vorhandensein eines Militärpostens ausschlaggebend für den Bau des Lagers. Und die Großzügigkeit eines benachbarten Dorfes, in dem kongolesische Hutu wohnen. Die Hutu halfen den Tutsi, sich niederzulassen. Mehr war nicht drin. „Die haben doch auch Hunger“, sagt ein Lagerbewohner. „Sie haben wegen des Krieges nichts anbauen können. Die Leute sind überall in der Gegend verstreut.“

Seit 1993 herrscht in den Masisi-Bergen Bürgerkrieg – Milizen, nach Ethnie sortiert, ausgerüstet und bezahlt von lokalen Politikern, vertrieben sich gegenseitig aus den fruchtbaren Hügeln und erhielten im Laufe der Jahre Verstärkung von anderen kongolesischen Kriegsparteien, die ein sicheres Rückzugsgebiet suchten. Heute zählt die Region Masisi nach UN-Schätzungen 250.000 Kriegsvertriebene. 1987, bei der letzten Volkszählung, hatte sie 249.971 Einwohner.

Wieso kehren die Flüchtlinge ausgerechnet in dieses verwüstete Terrain zurück? „Weil hier die Leute von hier sind“, lautet die Antwort von Sendjungwa (17), der am 2. Oktober in Kirolirwe angekommen ist: Er wohnt lieber verarmt in einer ihm vertrauten Gegend als UNHCR-versorgt in der Fremde. „Ich würde gerne nach Hause gehen, aber da wohnen jetzt andere Leute“, fügt er hinzu. Offiziöser ist die Antwort des Lagerleiters Rwamakuba: „Aus Vaterlandsliebe“ sei man gekommen. Der Kongolese Aloys Tegera, der Schulfreunde unter den Bewohnern von Kirolirwe hat und für sie Hilfe zu organisieren versucht, erklärt: „Die, die jetzt zurückgehen, sind die Ärmsten der Armen, die sich in Ruanda nicht integrieren konnten. Sie verkaufen ihre Vorräte, um die Rückfahrt in den Kongo zu bezahlen, und da werden sie aufgesammelt.“

Aber die kongolesischen Behörden haben ganz offensichtlich nicht die Mittel, um den Rückkehrern ein menschenwürdiges Leben zu bieten. Die Einnahmen der Provinzregierung von Nord-Kivu, sagt der von der hier herrschenden Rebellenbewegung RCD (Kongolesische Sammlung für Demokratie) gestellte Provinzgouverneur Eugene Serufuri, betragen gerade mal 30.000 Dollar im Monat. „Damit ist es wirklich unmöglich, Gehälter zu bezahlen“, sagt er und blinzelt ernst in die Videokamera seines Pressesprechers, der das Gespräch aufzeichnet.

Warum holt der Gouverneur sich dann noch zusätzlich Leute ins Land? „Ihre Nachbarn haben verlangt, dass sie zurückkommen.“ Mitten ins Kriegsgebiet? „Wir erklären den Leuten, dass sie sich gegenseitig umgebracht haben und jetzt die Zeit gekommen ist, das Land wiederaufzubauen. Die Botschaft kommt gut an.“

Da scheint der Gouverneur Recht zu haben. Wer kann, baut auf. Auf der Piste, die in die Masisi-Berge führt, rennen Schulkinder nach Hause, Frauen tragen Süßkartoffeln zum Markt, manch junger Mann spaziert gar im Anzug durch den Matsch. Der Marktplatz der Kleinstadt Sake, in der die Bergstraße beginnt, ist voller Leben.

Und doch hat der Gouverneur nicht Recht. Auf dem Markt gibt es mehr Käufer als Waren und viele hungrige Blicke. Und die Lage verschlechtert sich stetig. Nach UN-Angaben steigt die Zahl der Vertriebenen immer weiter – Ergebnis der fortgesetzten Angriffe von Milizen wie den ruandischen Hutu-Truppen „Interahamwe“ und den kongolesischen „Mayi-Mayi“. „Die Zirkulation dieser Banden ist das größte Problem“, sagt Azile Tanzi von der unabhängigen Bürgerrechtsorganisation „Campagne pour la paix“. „Für die Jugendlichen hier gibt es keine Hoffnung. Mit einem Gewehr kann man die Leute terrorisieren und Dinge kriegen, die man nicht hat. Die Banden suchen Kleidung, Seife, Lebensmittel. Sie warten den Markttag ab, und wenn die Bauern mit ihren Einkäufen in die Dörfer zurückgehen, greifen sie an. Es kommt vor, dass sie das dreimal machen, und auch wenn sie danach nie wiederkommen, hat die Bevölkerung Angst und bleibt auf Dauer weg.“

Die Unsicherheit zerstört ein Zusammenleben: „Die Leute sind zusammen, ohne zusammenzuleben. Wenn ein Dorf angegriffen wird, flieht die eine Ethnie in die eine Richtung, die andere in die andere“, sagt Tanzi. Eddy Kikumbu, Verwaltungschef des Kulturinstituts Pole, das sich um ethnische Verständigung in der Region bemüht, bestätigt: „Früher arbeiteten und aßen die Leute zusammen. Heute nicht mehr.“

Die Konflikte des Masisi sind wie ein Kaleidoskop des Kongo-Krieges, das mit jeder Drehung ein völlig neues Bild bietet. Einmal geht es um den Kampf der Ethnien: Die Bahunde, die als ursprüngliche Bewohner der Gegend gelten, gegen die später eingewanderte ruandischsprachige Minderheit – die Hutu und Tutsi. Dann die Hutu gegen die Tutsi. Dann Bahunde und Hutu gegen die Tutsi. Und dann Tutsi und Bahunde gegen die Hutu, deren Milizen als Störenfriede gelten. In der Summe also jeder gegen jeden. Über allem steht die Rivalität von Politikern, die ihre jeweilige ethnische Gemeinschaft in den Krieg treiben.

Und dann noch die Landknappheit. Die Masisi-Region wurde zur belgischen Kolonialzeit großflächig zugunsten von belgischen Siedlern und Plantagenbesitzern enteignet. Nach der Unabhängigkeit 1960 wanderten viele dieser Großfarmen in den Besitz vermögender Kongolesen – Diktator Mobutus ehemaliger Zentralbankchef Pay Pay etwa nennt halb Masisi sein Eigen und finanziert aus dem belgischen Exil heraus den Guerillakrieg der Mayi-Mayi-Milizen gegen die „ruandische Besatzung“. Auf sein Land und das mancher anderer abwesender Großgrundbesitzer traut sich kein Bauer. Also drängen sich die Vertriebenen des Krieges an den Rändern bestehender Dörfer und Städte. Die Provinzhauptstadt Goma, die 400.000 Einwohner hat, zählt 70.000 Vertriebene aus dem Hinterland.

In den Hilfsorganisationen hofft man, dass aus diesen spontanten Ansammlungen neue Formen des Zusammenlebens entstehen können, in denen ethnische Differenzen keine Rolle mehr spielen. Aber ohne Hilfe für die Menschen ist das Gegenteil der Fall. Gewalt, Brandstiftung und Attacken der Milizen sind an der Tagesordnung. Patient Kanyamacumbi, ehemaliger Generalvikar von Goma, meint: „Wir haben eine Bevölkerung ohne Führung. Jedes Gerücht wird für bare Münze genommen. Wenn es keine zivilgesellschaftliche Struktur gibt, sind die Leute der Hetze von Politikern ausgesetzt. Rassismus ist hier keine bloße Theorie. Man denkt nicht an die Nation, sondern verlangt, dass der eigene Bruder an die Macht kommt.“

Und das Rezept der RCD-Verwaltung gegen die Krise? Sie verteilt Waffen. Unzählige „Local Defence Units“ (LDU) hat die RCD nach ugandischem Vorbild in Nord-Kivu aufgebaut. Die Bevölkerung soll sich selbst gegen die Angriffe der Milizen verteidigen.

In Kirolirwe laufen überall junge Männer mit Gewehren auf der Schulter herum, die schüchtern lächeln, wenn man sie nach dem Grund dafür fragt. „Ich patrouilliere nachts“, sagt einer von ihnen und erklärt, sein Vater sei in der richtigen RCD-Armee. Lagerleiter Rwamakuba präzisiert, es gebe zweiwöchige Kurse „zusammen mit der lokalen Bevölkerung“ auf dem Gelände der nahe gelegenen, leer stehenden Großfarm. „Wir lernen Vaterlandsliebe und Landesverteidigung“, sagt er. Was heißt das, Vaterlandsliebe? „Dass man Glück und Unglück teilen muss. Und dass dies dein Land ist, ob du reich bist oder arm.“

Kirolirwe ist arm. Zwar sind inzwischen dank lokaler Intiative und deutscher Finanzierung neue Hilfslieferungen in das Lager gekommen. Aber eine regelmäßige Versorgung ist nicht gesichert. Was werden die jungen Rückkehrer mit ihren Gewehren also wohl machen, wenn sie weiter zu wenig zu essen haben? Manche Lagerbewohner, so wird gemunkelt, haben sich schon ein wenig in der Gegend umgesehen und ihre frühere Heimat besucht. Dort können sie wegen der Hutu-Milizen zwar nicht leben, aber sie können schon mal Bewohner anheuern, die Felder wieder herzurichten. Für alle Fälle. Obwohl die Rückkehrer, wie Emmanuel Rwamakuba beteuert, nicht gegen die Milizen in den Krieg ziehen sollen. „Noch nicht.“