„Mir macht keiner mehr was vor“

Im Guerillakrieg das Leben riskieren, um hinterher wieder nur zu überleben? Macht so eine Existenz Sinn? Das Portrait der Campesina Inéz

von TONI KEPPELER

„Aber die Größe des Menschen liegt gerade darin, das Bestehende bessern zu wollen, sich Aufgaben zu stellen. Im Himmelreich ist keine Größe mehr zu erringen, dort hat alles seine festgesetzte Rangordnung, ein wolkenloses Unbekanntes, eine Existenz ohne Ende, keine Möglichkeit mehr, sich aufzuopfern, nur Ruhe und Seligkeit. Darum gelangt der Mensch – von seinem Leid und seinen Lebensaufgaben niedergedrückt, schön in seinem Elend, fähig zu lieben inmitten aller Plagen – zu seiner Größe, zu seinem höchsten Maß einzig und allein im Reich dieser Welt.“

Alejo Carpentier, Das Reich von dieser Welt

Der Mensch, von dem hier erzählt wird, heißt Inéz Aviléz. Inéz ist 54. Geboren und aufgewachsen in Honduras. Nach dem so genannten Fußballkrieg von 1969 gegen El Salvador vertrieben, weil sie einen Mann aus El Salvador geheiratet hatte.

Seither wohnt sie im Lempatal in El Salvador. Zunächst in der Kolonie 14. Juli, wo sich viele niedergelassen haben, die damals aus Honduras ausgewiesen wurden. Heute in Taura, einem Nest von 44 Familien, das in der Trockenzeit im Staub erstickt und in der Regenzeit im Schlamm versinkt.

Man sieht Inéz an, dass sie nicht aus dieser Gegend stammt. Die Leute im unteren Lempatal sind ruhig und reserviert. Sie sind klein und dunkelbraun, haben blauschwarzes Haar. Inéz ist groß, korpulent. Fast ein bisschen grob.

Sie hat einen grau melierten Lockenkopf und Hände, sie seit Jahrzehnten an die Arbeit mit der Machete gewohnt sind. Sie erzählt gern und lacht fast immer. Dann sieht man, dass sie nur noch drei Zähne hat. „Frag nach Inéz aus Taura“, sagt sie. „Du wirst mich finden.“

Jeder im unteren Lempatal kennt Inéz. Seit Inéz denken und arbeiten kann, ist sie Campesina. Um vier Uhr aufstehen und zum Brunnen gehen, um Wasser zu holen. Danach an den Fluss, um die Wäsche zu waschen. Kurz vor sechs hinaus aufs Maisfeld. Um die Mittagszeit, wenn die Hitze unerträglich wird, kommt sie schweißgebadet zurück.

Ums Haus ein paar Hühner und Enten und ein paar räudige Straßenköter. Fegen, kochen, um acht, spätestens um neun ins Bett. Strom gibt es nicht in Taura, und also auch kein Fernsehen. Und beim Kofferradio, das ohne Batterien funktioniert, ist der Aufziehmechanismus schon lange kaputt.

In schlechten Jahren hungern Campesinos. In guten bleibt etwas Geld übrig, um Hefte und Bleistifte zu kaufen für die Kinder oder Kleider auf dem Gebrauchtwarenmarkt in der Hauptstadt. In ganz guten Jahren gibt es sogar ein Paar neue Schuhe. Aber solche Jahre gab es für Inéz lange nicht mehr. Sie geht in uralten Plastikadeschlappen aufs Feld.

Mehr noch als unter Hunger leiden Campesinos unter den Großgrundbesitzern. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren waren tausende von armen Salvadorianern ins fünfmal größere Honduras gezogen, weil es dort noch Land gab. 1969, mit dem Krieg, wurden sie wieder ausgewiesen. Nicht etwa wegen eines verlorenen Fußballspiels in der Weltmeisterschaftsqualifikation, wie es die Legende will. Großgrundbesitzer waren scharf auf ihren Boden.

In der Kolonie 14. Juli, wo Inéz angesiedelt wurde, war der Boden knapp. Die Campesinos mussten sich als Tagelöhner verdingen und immer mehr Arbeit für immer weniger Geld verrichten. Wer aufmuckte, wurde erst gewarnt und dann erschossen. „Es wurde von Tag zu Tag schlimmer, und so begann schließlich der Krieg.“

Inéz ging zur Guerilla. Als Köchin, als Botin, als Führerin für die Comandantes, die aus der städtischen Mittelschicht kamen und nicht wussten, wie man sich auf dem Land bewegt.

Mehr als nur einmal hat sie die großen Guerillastrategen ihrer Gegend auf Schleichwegen aus einer tödlichen Umklammerung der Armee geführt. „Heute sitzen sie im Parlament oder sind Bürgermeister und reden nicht mehr mit mir.“ Sie erzählt das ohne Bitterkeit. Eher schmunzelnd, weil sie weiß: Ohne sie wäre dieser und jener lange tot.

Nach dem Friedensvertrag von 1992 wurde Inéz demobilisiert. Sie bekam ein Stück Land in Taura. Sie ist wieder Campesina.

Elf Kinder hat Inéz geboren. Drei davon sind früh gestorben. An Unterernährung und sonstigen Mangelerscheinungen. Das ist eigentlich nicht weiter erwähnenswert. Drei von elf Kindern, das ist auf dem Land normal. In Honduras genau so wie in El Salvador. Die Mütter trösten sich mit dem immer selben Argument: „Es war eben schwächlich.“

Ein Sohn von Inéz starb, als er schon vierzehn war. Das war 1989, als in El Salvador die Guerilla der „Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí“ die größte und erfolgreichste Offensive des zwölfjährigen Bürgerkriegs vorbereitete. Der Sohn war mit dabei. Er fiel in einem Hinterhalt der Armee.

Als er elf war, hat ihn die Guerilla mitgenommen“, erzählt die Mutter. „Sie haben gesagt: Die Armee sucht gerade kleine Jungen. Die steckt sie in geheime Ausbildungslager und macht Monster aus ihnen. Maschinen, die töten, ohne nachzudenken. Da ist es doch besser, er geht mit der Guerilla.“ Dass er drei Jahre später gefallen ist, erfuhr Inéz erst Wochen später. „Es war irgendwo in der Nähe von San Salvador. Ich weiß nicht einmal, wo sie ihn begraben haben.“

Auch zwei Töchter und noch zwei Söhne waren bei der Guerilla. Die drei Kleinen ließ sie bei befreundeten Familien, als sie selbst „in den Bergen“ war. „Das waren alte Leute. Die sagten mir: Geh du in die Berge. Du kannst das noch. Wir sind zu alt.“ Eine Tochter hat sich so an die Pflegefamilie gewöhnt, dass sie noch heute dort lebt. Die jüngste kam nach dem Krieg zu ihr zurück und wirft der Mutter bis heute vor, dass sie sie im Stich gelassen hat.

Und wofür? Für ein Stück Land in Taura. Für ein vielleicht dreißig Quadratmeter großes Häuschen ohne Wasser und ohne Strom. Mit vernagelten Fenstern, weil es kein Geld gibt für die Scheiben. Mit einem Dach aus Wellblech, unter dem es in der Trockenzeit, wenn es draußen mehr als vierzig Grad hat, über sechzig Grad heiß wird. Das in jeder zweiten Regenzeit mindestens einmal überflutet wird.

Als vor zwei Jahren der Wirbelsturm „Mitch“ über Zentralamerika zog, stand das Wasser im Haus zwei Meter hoch. „Der Fluss hat alles mitgenommen. Möbel, Geschirr, Kleider, alles.“ Auch ihre vier Kühe sind damals ersoffen.

„Seit ich bei der Guerilla war, bin ich nicht mehr so demütig“, sagt Inéz. Nicht etwa, dass es bei den Rebellen demokratisch zugegangen wäre. Es galt nur Befehl und Gehorsam. Aber die Befehle gab nicht ihr Mann, der mit ihr in die Berge gegangen war. Die Befehle kamen vom Comandante.

„Da habe ich begonnen, mich zu befreien. Im Krieg starb die Frau in mir.“ Besser gesagt: die zentralamerikanische Landfrau in ihr. Frauen auf dem Land haben demütig zu sein.

Heute hat Inéz ihre eigenen Vorstellungen von dem, was eine Ehe sein soll: „Eine Frau kann von ihrem Mann verlangen, dass er sie versteht. Sie kann erwarten, dass auch sie einmal bedient wird. Sie soll nur dann Sex haben, wenn sie es will. Und sie hat das Recht, im Alter eine neue Beziehung einzugehen.“

So weit die Theorie. In der Praxis ist ihre Ehe daran gescheitert. Ihr Mann hat sie vor ein paar Jahren verlassen. Er fand eine andere, die so demütig war, wie Inéz nicht mehr sein wollte. Inéz schmerzt das noch heute. Er war ihr Compañero. Für ihn hatte sie sich entschieden. Mit ihm hatte sie elf Kinder.

Auch mit allen Töchtern klappt es nicht so, wie es Inéz gerne hätte. Eine hat drei Kinder von zwei verschiedenen Männern. Gelegenheitsbekanntschaften. „Die ist bescheuert“, sagt die Mutter. „Schläft mit offenen Beinen und lässt sich einen Bauch machen.“

Als sie zum letzten Mal schwanger nach Hause kam, meinte eine andere Tochter, Inéz solle sie hinauswerfen. „Aber das geht doch nicht. Ich habe sie ordentlich in den Senkel gestellt. Ich habe ihr auch gesagt, dass sie bescheuert ist. Sie hat geweint, und ich habe auch geweint. Aber ich kann sie doch nicht hinauswerfen. Sie ist doch meine Tochter.“

Inéz weiß sich zu behaupten. „Ich bin ich“, sagt sie. „Mir macht keiner so schnell etwas vor.“ Sie kann zwar weder schreiben noch lesen. Dafür kann sie reden. Wenn immer bei einer Versammlung ein Mikrofon herum gereicht wird, muss sie es haben. „Ich habe selbst schon vor Studenten in den USA gesprochen.“ Man hat sie dort hingeschickt, als Vertreterin von Taura für internationale Beziehungen und Wirtschaftsfragen. Wenn sich eine Gemeinde, die fast nur aus Familien ehemaliger Guerilleros besteht, nicht selbst um internationale Hilfsgelder kümmert, ist sie verloren. Von der rechten Regierung wird sie jedenfalls ignoriert.

„Wenn du dich nicht organisierst“, weiß Inéz, „kannst du nichts erwarten. Ich bin seit mehr als fünfundzwanzig Jahren organisiert. Ich sage das auch meinen Kindern: Ihr müsst euch organisieren und kämpfen. Sonst seid ihr verloren.“

Inéz war in den USA, um Geld zu sammeln für einen Damm. Nach fünf Überschwemmungen in sechs Jahren hatten die Einwohner von Taura genug. Das Geld kam zusammen. Und die Leute vom unteren Lempatal stellten auch sicher, dass es eingesetzt wird. „Wir sind in die Hauptstadt gefahren. Fünfzehntausend Campesinos waren da an einem Tag vor dem Präsidentenpalast.“ Das war nicht zu überhören.

Im Frühjahr kamen erst die Vermesser und dann die Bulldozer. Der Damm wurde gebaut. Schwere Lastwagen fuhren über das Maisfeld von Inéz. Die Ernte war verloren. Die Ernte davor hatte ein Hochwasser mitgenommen. Und davor war „Mitch“. Seit zwei Jahren lebt Inéz von der Hand in den Mund.

Heute ist der Damm fast fertig. Fünf Meter hoch, vielleicht zwanzig Meter breit. Eine solide Konstruktion. Alle fünfhundert Meter eine Rampe, damit das Vieh auf die anderen Seite getrieben werden kann.

Der Damm verläuft mitten durch das Maisfeld von Inéz. „Sie haben mir ein gutes Drittel meines Landes einfach abgeschnitten.“ Was noch bebaut werden kann, fällt den Kühen zum Opfer. Wenn eine Herde zur Rampe getrieben wird, bleibt hinterher nichts zurück.

Entschädigungen gibt es nicht. Der Damm allein ist schon genug Segen fürs Dorf. Zwei Jahre lang hat Inéz für den Bau gekämpft. „Jetzt bin ich die Verarschte“, sagt sie. „Hätte es einen anderen getroffen, würde man mir jetzt Vorwürfe machen.“

TONI KEPPELER, 44, taz-Zentralamerikakorrespondent, lebt seit sechs Jahren in El Salvador