Tarantino trifft Ken Loach

■ Neu im Kino: Peter Mullan hat in sein Filmdebüt „Orphans“ all seine abseitigen und spektakulären Ideen gestopft. Das ist komisch und originell

Ein seltsamer Film: Er beginnt als typisch britisches „kitchensink drama“ mit vier „working-class“-Geschwistern in Glasgow, denen die Kamera in den 24 Stunden nach dem Tod ihrer Mutter folgt. Nicht umsonst hat der schottische Filmemacher Peter Mullan die Titelrolle in Ken Loachs „My Name is Joe“ gespielt. Sein Debüt „Orphans“ wirkt in den ersten Minuten so, als wäre Mullan nicht viel mehr als ein talentierter Epigone des großen britischen Kinorealisten. Er stößt uns direkt mit der Nase hinein in das ungeschönte Leben dieser vier Geschwister: Der eine singt in einer Karaokebar vom Tod seiner Mama und bricht auf der Bühne in Tränen aus. Als ein Betrunkener sich darüber lustig macht, wird dieser vom zweiten Bruder verprügelt, und der fängt sich dabei prompt einen Messerstich in den Bauch ein. Dafür schwört nun wiederum der dritte Bruder Rache, und alle drei vergessen darüber ihre querschnittsgelähmte Schwester, die bald alleine im Rollstuhl durch ein stürmisches Glasgow irrt. Soweit entspricht noch alles den Konventionen des guten alten britischen Next-after-Neo-Realismus, aber all dies passiert in den ersten fünf Minuten des Films!

Und danach lässt Mullan jede britische Zurückhaltung fahren: Die Situationen werden immer bizzarer, der Humor immer absurder. Mal spritzen Körpersäfte so drastisch-komisch wie in „Verrückt nach Mary“, mal werden Kneipengäste von einem sadistischen Wirt im Keller eingesperrt und drangsaliert, ganz ähnlich wie in einer berühmten Szene aus Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“. Peter Mullan versuchte hier so viele möglichst spektakuläre und abseitige Ideen wie nur möglich in seinen Film zu stopfen. Zum Ende hin wird „Orphans“ gänzlich surrealistisch, wenn in einer apokalyptischen Szene ein Sturm ein ganzes Kirchendach davonweht und einer der Brüder halbtot auf einem Holzbrett im Jordan (oder dessen Glasgower Version) treibt.

Die Geschichte wird immer überdrehter und völlig unglaubwürdig, aber andererseits werden nicht nur die vier Protagonisten, sondern auch alle Nebenfiguren so authentisch und genau portraitiert, dass man den Glauben an sie nie verliert. Dadurch wird der Film, der eigentlich in all diese verrückten, völlig unvereinbaren Szenen auseinanderfliegen müsste, dann doch zu einer dramaturgischen Einheit. Alle vier Geschwister treiben auf eine Erlösung zu: Der Zornige wird besänftigt, der Verletzte wiedergeboren, die Verlassene findet Freunde, und selbst der bornierte Bigotte lässt schließlich die Toten ruhen und geht mit den Lebenden.

Peter Mullan wagt viel. Aber der Film hält seine ganz eigene, völlig unsentimentale Stimmung zwischen Tragik und wildem Humor konsequent bis zum Schluss durch, und so ist ihm ein sehr origineller, intensiver und komischer Film gelungen, bei dem man nie sicher sein kann, was als nächstes passiert oder was genau man davon halten soll.

Wilfried Hippen

„Orphans“ läuft in der Originalfassung mit Untertiteln (die wegen des doch sehr strengen schottischen Akzents auch in den USA nötig waren) täglich (außer Sonntag) um 20.30 Uhr im Kino 46