Neue Wunder braucht die Welt

von JENNI ZYLKA

Wunder gibt es immer wieder(Katja Ebstein)

Leider ist nicht bekannt, ob die rothaarige Schlagerfee damit weiland bereits auf die Neuwahl der sieben Weltwunder anspielte. Zum Jahrtausendwechsel sollen die antiken Wunder nämlich ausgedient haben. Findet jedenfalls der Schweizer Museumskurator und Filmemacher Bernhard Weber, der unter der Schirmherrschaft von Dennis Hopper, dem Unesco-Sonderberater Paolo Coelho und dem Abenteurer Betrand Piccard das Projekt „The new 7 wonders“ realisiert hat.

Mitbestimmen darüber, welche menschlichen Leistungen so wunderbar waren, dass sie den Status „Weltwunder“ tragen dürfen, sollen alle. Zumindest alle, die von dem Projekt erfahren, und per E-Mail bis heute unter www.new7wonders.com gewählt haben. Aus den 630 von der Unesco bestimmten Monumenten des Weltkulturerbes hat die Initiative 17 ausgewählt, und noch sechs von der Bevölkerung nominierte Bauwerke hinzugenommen. Aus diesen 23 Orten wundervoller Baukunst soll man nun sieben Monumente herausklamüsern, die es mit den Pyramiden von Gizeh, den Hängenden Gärten der Semiramis, dem Bildnis des Zeus in Olympia, dem Artemistempel in Ephesos, dem Mausoleum von Halikarnassos, dem Leuchturm von Alexandria und dem Koloss von Rhodos aufnehmen können.

Womit das erste Problem des Megaprojekts vorsichtig an die Tür klopft: Wann ist ein Weltwunder eigentlich ein Weltwunder? Schon die sieben Wunder der Antike waren beileibe nicht unumstritten. Sondern wurden, so scheint es, eher zufällig in der Gegend um Ägypten und Griechenland ausgemacht, mit einem kleinen Abstecher in die heutige Türkei. Wo sollten sie in der Antike, in der die Völker des Mittelmeerraums weder auf den Ozeanen noch im Morgenland frequent travellers waren, auch sonst zu suchen sein. Und so kehrte man vor seiner eigenen Tür und fand zum Beispiel den mythischen Turm zu Babel. Der flog allerdings wieder raus aus der Sieben-Besten-Liste, denn er war zum Zeitpunkt der ersten verbürgten Bestandsaufnahme im zweiten Jahrhundert v. Chr. bereits komplett kaputt.

Auch die reich verzierten Stadtmauern Babylons galten nur ein paar Jahrzehnte lang als Wunder, bei der endgültigen Fixierung der Liste im sechsten Jahrhundert mussten sie dem Leuchtturm von Alexandria weichen.

Der kleinste gemeinsame Nenner (wenn man in diesem Zusammenhang von klein zu sprechen wagt) der übrig gebliebenen Wunder ist Größe und Beschaffenheit der Bauwerke. In Relation zur Zeit: Mit einem kleinen, botanischen Garten wie den Hängenden Gärten der Semiramis könnte man heute keinen Blumentopf mehr gewinnen. Damals allerdings, als König Nebukadnezar die Gartenanlage im Palast anlegen ließ, um seine Frau zu erfreuen, schwärmten die Besucher in höchsten Tönen.

Außer der raffinierten Bauweise sollte so ein Weltwunder jedoch auch noch eine mystische Bedeutung haben, die es über andere eindrucksvolle Bauten hinaushebt. Der bronzene Koloss von Rhodos etwa, der angeblich irgendwo an der Hafeneinfahrt der Insel Rhodos stand (übrigens nicht breitbeinig), wurde dem Sonnengott Helios zu Ehren gebaut, denn der hatte den Bewohnern Rhodos’ geholfen, einen Krieg zu gewinnen – ein kollektives Dankeschön an eine Gottheit. Ein Erdbeben ließ den 32 Meter hohen Koloss 224 v. Chr. zusammenstürzen, und die orakelgläubigen Insulaner ließen die Stücke fast 900 Jahre verrotten – es brachte angeblich Unglück, die Figur wieder aufzubauen. Danach wurden die Bronzestücke von ungläubigen Arabern, die Rhodos 653 n. Chr. eroberten, einfach eingeschmolzen.

Die Bauwerke, die der Schweizer Kurator mit dem Weltwundertick nominiert hat, haben es schwer gegen solch fabulöse Geschichten. Die neue Siebenheit soll nämlich nicht nur als kulturelles, religiöses oder historisches Symbol bestehen, sondern auch noch „den gemeinsamen Geist ihrer Zeit“ widerspiegeln. Und der ist schwer zu fassen in einer Zeit, die durch virtuelle Globalisierung die Welt einerseits ausweitet und andererseits zusammenschnurren lässt wie ein Jojo.

Kann also der Eiffelturm, der zwar unbestritten das Wahrzeichen von Paris ist, aber ohne jegliche spirituelle Hintergedanken in 27 Monaten errichtet wurde, gegen ein immer noch komplett mathematisch und religiös diffus rätselhaftes Phänomen wie eine zünftige Pyramide ankommen? Laut Herodot wurde allein zehn Jahre lang an der Straße gebaut, auf der die vielen unglücklichen Sklaven die Steine zum Bau der Pyramiden schleppen mussten (ganz zu schweigen von der 20-jährigen Bauzeit an den Grabmalen selbst).

Und, ja, 30 Könige wurden im Aachener Dom gekrönt, die ehemalige Pfalzkapelle Karls des Großen war bei ihrer Entstehung (um 800 n. Chr.) der größte Kuppelbau nördlich der Alpen. Aber was sind 30 deutsche Könige gegen Zeus, den König der Götter, dem um 457 v. Chr. angeblich eine Statue mit Augen aus „faustgroßen Edelsteinen“ errichtet wurde?

Aber vielleicht ist das Gegeneinander-Aufwiegen von religiösen und kulturellen Symbolen und Schätzen ein Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen. Der ans Internet angeschlossene Teil der Öffentlichkeit, der sich erwartungsgemäß eher mäßig an dem undurchschaubaren Wahlverfahren beteiligt hat (zum Beispiel wird nicht nachgeprüft, ob die WählerInnen gültige Namen eingeben), liefert sich jedenfalls mit der Chinesischen Mauer und dem Grabmal Taj Mahal ein moderates Rennen um die ersten beiden Plätze.

Sie werden am Ende wohl beide dabei sein, der 3.000 Meilen lange Befestigungswall und das verschwenderische Grabmal für die indische Kaiserin Mumtaz Begum. Auch die Maya-Pyramiden von Chichen Itza werden es schaffen, vielleicht sogar die amerikanische Freiheitsstatue, die erstens zehn Meter höher als der Koloss von Rhodos ist und zweitens als symbolträchtiges Versprechen für die neue Welt, die neue Weltmacht kaum zu überbieten ist. Schließlich sollte jede Gottheit eigentlich „Freiheit“ heißen.

Damit hätten sich die neuen Weltwunder schon mal rein geografisch der Neuzeit angepasst: Das Wunderbare spielt nicht mehr nur im Mittelmeerraum.

Von der Öffentlichkeit nominiert, wenn auch der Unesco kein Weltkulturerbe wert, wurden außer der nüchternen Golden Gate Bridge, den Osterinseln mit ihren märchenhaften Felskolossen und dem Empire State Building übrigens noch das Opernhaus von Sydney, das 1973 nach neun Jahren fertig gestellt wurde und allein durch seine Funktion ganz hervorragend in die Weltwunderliste passen würde: Führte man dort nur noch „Aida“ auf, dann hätte man die schönste Verbindung zu dem ältesten (und einzigen noch stehenden) der antiken Weltwunder. Der greise Geiger Yehudi Menuhin hatte es bereits vor rund zwanzig Jahren in eine Reihe mit den Pyramiden gestellt. Außerdem verdient Australien einfach mal ein Weltwunder.

Aber ein echtes Wunder, tja, das ist es nicht. Im Gegenteil: Jeder kann sich in Filmen, auf Fotos und Bildern anschauen, wie es entstanden ist, welcher Architekt welchen Plan wann entworfen und realisiert hat, wie viele Geräte nötig waren. Keiner muss mit offenem Mund davor stehen, überwältigt von einer architektonischen Megalomanie. Jedenfalls nicht lange. Und Sklaven sind dafür auch nicht draufgegangen, ein Glück.

So wird die Wahl der neuen sieben Weltwunder also, unbemerkt von einem großen Teil der Öffentlichkeit, heute zu Ende gehen. Es werden Listen mit den sieben Bauwerken, die es geschafft haben, heraugegeben. Der findige Projektleiter hat längst einen „Seven Wonders Shop“ für Devotionalien angelegt, der „in Kürze eröffnet“ wird. Sogar eine spektakuläre „Neue 7 Weltwundertour“ will er „mit einem riesengroßen Amphibienflugzeug“ im Frühling 2001 starten, per Live-Streaming ins Internet übertragen, anschließend einen Imax-Film über die „demokratisch“ (bzw. Internet-demokratisch) gewählten Wunder produzieren und überhaupt alles dazu tun, dass der große Weltwunder-Coup ein richtiges Verkaufswunder wird. Oder, um mit dem Naturwissenschaftler, Altertumsforscher und Dichter Goethe zu sprechen: „Durch Wunder nur sind Wunder zu erlangen.“