Falsch verbunden

Manche Irrungen und Wirrungen sind nur in Berlin möglich. Wo sonst steht auf dem Türschild der Name eines Toten? Wer zur Wiedergewinnung der inneren Stabilität zurück in die heimatliche Hauptstadt reist, kann extrem aus der Bahn geworfen werden. Eine Kurzgeschichte von Wolfgang W. Timmler

Ich erzähle alles genau so, wie ich es selbst erlebt habe. Vor einem Monat sagte ich mir, so, jetzt fährst du mal wieder nach Berlin, das brauchst du für dein inneres Gleichgewicht. Außerdem hast du deine Schwester schon lange nicht mehr besucht.

Kurz zuvor hatte in Berlin unser Klassentreffen stattgefunden. Ich hatte mich zwar angemeldet, wusste aber gar nicht mehr, wer alles in meiner Klasse war. Die Namen waren mir einfach nicht mehr präsent. Die Leute, mit denen ich während der Schulzeit gut befreundet war, wohnten nicht mehr in Berlin, und mit den anderen aus meiner Klasse hatte ich keinen freundschaftlichen Kontakt.

Ich ging dann doch nicht hin. Irgendwie war das Treffen nicht so mein Ding. Ich fuhr lieber mit der Familie nach Italien. Das Treffen hatte unser früherer Klassensprecher organisiert. Ich fragte ihn, wer alles da gewesen sei. In der Zeitung erschien auch ein Artikel, aber der war saublöd: „Mit vierzig noch voll fit!“

Der Klassensprecher erzählte, er habe mit dem Professor in Berlin telefoniert. Der Professor war auch nicht zum Klassentreffen gekommen. Ich dachte mir, wenn ich in Berlin bin, checke ich mal ab, wie es steht mit dem Professor. Wenn es noch so ist wie vor 13 Jahren, muss ich vorsichtig sein, aber ich rufe ihn auf jeden Fall an, bloß um zu hören, wie der gute Mensch drauf ist.

Meine Schwester suchte mir dann in Berlin seine Nummer aus dem Telefonbuch. Als ich den Professor anrief, meldete sich eine Frau am Apparat. Ich dachte, es wäre seine Frau. Ich wusste ja, dass er verheiratet ist.

„Ich bin ein Schulfreund Ihres Mannes. Könnte ich ihn mal sprechen?“

„Mein Mann ist gestorben.“

Oh Gott, dachte ich, das war nun wirklich voll daneben. Die Frau sagte, ihr Mann sei an Blutkrebs gestorben, ganz plötzlich. „Ich komme jetzt ganz durcheinander. Kürzlich hat mein Bekannter mit ihm telefoniert, und ich bin mir nicht sicher, ob wir von derselben Person sprechen. Hat Ihr Mann auch das Leibniz-Gymnasium besucht?“

„Ja, das hat er.“

Ich hörte an ihrer Stimme, dass sie innerlich ganz aufgewühlt war. Ihr Mann war fast auf den Tag genau vor zehn Jahren gestorben. Darum reagierte sie auch so gefühlsmäßig. Ich hatte das gleich bemerkt. Nach jeder Frage musste ich prüfen: Konnte ich die nächste Frage noch stellen oder nicht? So in der Art. Wie ging’s dann weiter? Ich war natürlich völlig fertig. Der Professor lebte nicht mehr. War tot. Gestorben. Ich ging raus auf den Balkon, rauchte ein paar Kippen und dachte an den Professor und die alten Zeiten. Ich hatte wirklich geheult.

Die Geschichte aber ging nun deswegen weiter, weil ich die Frau gefragt hatte, auf welchem Friedhof ihr Mann begraben sei. „Es war sein ausdrücklicher Wunsch gewesen, anonym bestattet zu werden.“ Als ich das hörte, wusste ich, das war genau sein Stil. Er verschwand einfach ins Nichts und ließ wieder alle Fragen offen. So hatte es der Professor immer gehalten.

Es gab nur ein kleines Problem. Wenn der Professor seit zehn Jahren tot war, wie konnte dann der Klassensprecher mit ihm sprechen? Das war doch ein Ding der Unmöglichkeit. Irgendwas stimmte hier nicht. Ich rief den Klassensprecher an und sagte ihm, die Sache mit dem Professor sei doch recht merkwürdig.

„Du hast gesagt, du hättest mit ihm gesprochen.“

„Habe ich auch. Er hat mich sogar gefragt, ob ich nicht in derselben Straße gewohnt hätte wie seine Freundin.“

„Das gibt’s doch nicht! Jetzt wird’s mysteriös.“

Ich überlegte, ob der Professor und seine Frau vielleicht beschlossen hatten, in der Anonymität der Großstadt zu versinken. In Berlin war alles möglich. Ich nahm mir vor, ein bisschen Detektiv zu spielen. Über die Auskunft erfuhr ich, dass es unter dem Namen noch einen anderen Anschluss gab. Ich war mir nun schon ziemlich sicher, dass der Professor lebte. Vielleicht wollte er für weiß Gott wen gestorben sein, aber es gab ihn noch.

In Berlin angekommen, rief ich gleich den Klassensprecher an, um zu überprüfen, ob die beiden Telefonnummern identisch seien. Sie waren es nicht. Nachdem ich mit dem Klassensprecher telefoniert hatte, fuhr ich zu der Frau. Ich wollte die Wahrheit erfahren, aber sie war an dem Tag nicht zu Hause. Im Treppenhaus traf ich dann zufällig die Hauswartsfrau. Ich fragte sie, ob die Frau vom Professor noch hier wohne.

„Sie ist gerade einholen gegangen.“

„Eigentlich will ich ja ihren Mann besuchen.“

„Sie meinen sicher den Sohn. Der ist vor kurzem ausgezogen.“

Dass der Professor einen Sohn hatte, hörte ich zum ersten Mal. Plötzlich war mir alles klar. Der Professor hatte keinen erwachsenen Sohn. Dass ein zehnjähriges Kind – denn als ich ihn zuletzt gesehen hatte, hatte er noch kein Kind, also konnte sein Sohn höchstens zehn, zwölf Jahre alt sein – in dem Alter von zu Hause auszog, war undenkbar. So etwas gab es nicht. Nicht einmal in Berlin. Nun löste sich alles auf. Das Mysteriöse wurde mit einem Male grotesk.

So war Berlin. Nur in Berlin konnte es solche Irrungen, Wirrungen geben. Nur in Berlin stand auf dem Türschild der Name eines Toten. Nur in Berlin hatte ein Toter einen Telefonanschluss. Dabei kostete es doch kein Vermögen, die Eintragung zu ändern. Warum hatte die Frau das nicht gemacht? Wollte sie etwas aufrechterhalten? Wollte sie verhindern, dass der Name ausgelöscht wurde? Als Psychologe hatte ich damit keine Probleme, aber wenn ich mir überlegte, was ich alles hineingelegt hatte in diese Person, in den Professor, dann wurde mir ganz anders zumute. Ich hatte Abgründe gesehen, wo keine sind. Und ich hatte meine Bekannten da hinabsehen lassen. Natürlich war ihnen dabei schwindlig geworden.

„Geh da nicht hin! Begib dich nicht in Gefahr!“

Noch im Treppenhaus sagte ich zu mir, so, heute Abend rufst du den Professor an. Er war zum Glück zu Hause, und wir verabredeten uns für den nächsten Tag. Dreizehn Jahre sind eine lange Zeit. Er hatte sich verändert, zum Besseren, würde ich sagen, obwohl das jetzt vielleicht ein bisschen selbstgerecht und überheblich klingt.

„Es freut mich, dass du noch lebst.“

„Wieso? Hast du etwas anderes gehört?“

„Ich muss dir eine Geschichte erzählen.“

„Du hast eine Frau angerufen, und sie hat dir gesagt, dass ich tot sei.“

„Genau.“