Im Regen sitzen

„Vogelflüge“ und was sie uns Modernen noch sagen oder auch nicht mehr sagen – Vilém Flussers nachgelassene Essays rund um das Verhältnis von Natur und Kultur

Vilém Flusser: geboren 1920 in Prag, emigriert 1940 über London nach Brasilien, seit 1972 wieder in Europa, verstorben 1991. Jetzt ist ein kleiner Band mit philosophischen Essays aus dem Nachlass erschienen, die Titel tragen wie: „Wege“, „Täler“, „Vögel“, „Wiesen“, „Stürme“. Mit den Wegen beginnt es, speziell mit dem Ofenpass der Alpen. Der Essay beschreibt, welche Landschaften diese Straße passiert und erwähnt, dass sie durch einen „Nationalpark“ führt. Noch auf der ersten Seite stockt man beim Lesen, eben bei dem Wort Nationalpark. Um das Verhältnis von Natur und Kultur wird es in den Texten immer wieder gehen. Verließe man die Straße und ginge in die Natur des Nationalparks, käme man dann in die Natur, oder, weil dieser organisiert wird, in die Kultur? Dass die Straße andererseits der Kultur angehört, scheint einleuchtend, Flusser aber hat in einem Paläontologiebuch entdeckt, dass der Pass „jahrtausendelang der Weg der Herden wilder Pferde, des Viehs ‚Ur‘ und der Rentiere war, die von Jägern, unseren Ahnen, verfolgt wurden“. Also ist selbst hier die Natur im Spiel.

In „Regen“ schildert Flusser die Situation, im Haus (der Kultur) zu sitzen und so vor dem Regen (der Natur) geschützt zu sein. Die Konsequenz sei aber nicht, diesen Zustand zu genießen, sondern darüber nachzudenken, wie der Regen zu „kontrollieren“ ist. „Wir wollen den Regen nicht mehr als Phase im ewigen Wasserkreislauf, sondern als geplante Bewässerung unserer Felder. [...] Durch das Fenster gesehen, würde sich dieser Regen in nichts von dem jetzigen Regen unterscheiden, obwohl er diesseits und nicht jenseits des Fensters der Kultur fallen würde. Das verursacht mir Schüttelfrost.“

„Wunder“ heißt ein anderer Text, Flusser betrachtet wieder die Natur – „eine winterliche Landschaft, die, von der Frühjahrssonne beschienen, zögernd erwacht“ – und muss feststellen, dass sich in seinen Blick die Kultur schiebt, und zwar gleich in mehreren Formen: „ethisch“, „erklärend“, und „ästhetisch“, Letzteres lässt ihn die Landschaft auf ganz verschiedene Weise erleben, mal „hyperrealistisch“, „expressionistisch“, „impressionistisch“, „naturalistisch“, oder „romantisch“. In dem Essay „Nebel“ spricht Flusser von einem „metaphorischen Nebel“ der Kultur.

Der Blick auf die Dinge verrät etwas über das Denken. Was denken wir, wenn wir einen Vogel (oder dessen Flug) wahrnehmen, fragt Flusser? Sehen wir in ihm eine Vorlage für Flugzeuge? Verbinden wir mit ihm eine „aerodynamische Gleichung“? Dieser Betrachtungshinweise stellt der Autor das Sehen unserer „Ahnen“ gegenüber, die im Vogel noch ein göttliches Wesen sahen und den Traum vom Fliegen hatten, den wir verwirklicht haben. Aber „den Vogelflug so zu sehen, wie ihn unsere Ahnen sahen“, sagt Flusser, „bedeutet das Fliegen verkitschen zu wollen“. Flusser sieht den modernen Menschen gleichsam in der Schere und drückt es so aus: „Der Verlust des Wissens vom Glauben und der Verlust des Glaubens an das Wissen“.

Im letzten Essay „Naturalmente“ geht er der Frage nach, warum der „Glaube an das Wissen“ bröcklig wird. Die Wissenschaft, meint Flusser, befinde sich in einem „Umbruch“. Und entscheidender Faktor sei, dass der Mensch nicht mehr nur hauptsächlich Dinge außerhalb von ihm betrachte, sondern sich mehr und mehr selbst ins Zentrum der Untersuchung setzt. Was allerdings dazu führe, dass „die Unterscheidung zwischen dem erfahrbaren Objekt und dem erkennenden Subjekt nicht aufrechterhalten bleiben [kann]“ – er ist „zugleich Subjekt und Objekt“. Hierin erkennt Flusser die „Krise“ der Wissenschaft, die einen „Fortschritt hemmt“. „Die so merkwürdige Natur, von der aus der wissenschaftliche Fortschritt in Richtung Mensch und Gesellschaft vorgestoßen ist, enthüllt sich jetzt als objektiver Horizont und nicht mehr als solider Boden unserer konkreten Wirklichkeit.“

In seiner Form offen, vermeidet das Buch „Vogelflüge“ begrenzende Antworten und kreist die Begriffe Kultur und Natur eher mit präzisen Fragen ein.

KRISCHAN SCHROTH

Vilém Flusser: „Vogelflüge“. Aus dem Portugiesischen vom Edith Flusser. Hanser Verlag, München 2000, 136 Seiten, 29,80 DM