Stalin, Lenin, Gott

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

„Das russische Volk weint nicht gern, es singt lieber“, davon war Russlands Poet Nikolai Nekrassow schon im 19. Jahrhundert felsenfest überzeugt. Und es beherrscht das Singen virtuos wie kaum ein anderes Volk.

Nun singe, wem Gesang gegeben: Präsident Putin schenkte den Bürgern zu Neujahr eine alte, umstrittene Nationalhymne mit einem neuen, den Zeitläuften angepassten Text. Zehn Jahre hymnisches Schweigen gingen in Russland damit zu Ende. Mitsingen – nicht Mitreden – ist in Russland nun wieder erwünscht. Zweimal täglich um 6 Uhr in der Früh und um Mitternacht werden die staatlichen Sender ihr Programm für die Hymne unterbrechen. Die dafür eingespielte, offiziell autorisierte Version, die der Chor des Kreml in der Silvesternacht erstmals darbot, verursachte indes bei manch musischem Russen eine Gänsehaut. War es vielleicht nur ein übler Silvesterscherz? Waren die Ausführenden ein angeheitertes Fabrikensemble? Oder wetteiferten dort tatsächlich hysterische Männerstimmen mit knödelndem Pathos um die Gunst des Kreml-Patrons?

Und Putin tat noch mehr: Nach einer Dekade ohne verbindliche Staatssymbole bescherte er Volk und Land zum neuen Jahrtausend einen kompletten Satz nationaler Insignien. Zukünftig soll keiner mehr Grund zum Weinen haben. Aus dem Fundus der russischen Asservatenkammer verteilte der Kreml-Chef an die geräuschvollsten Kräfte der Gesellschaft jene Symbole, die sie jeweils favorisieren. Gerecht ging es zu. Und das ist in Russland gerade auf der Ebene der symbolischen Politik immer noch wichtig.

Der Byzanz entlehnte doppelköpfige Wappenadler dürfte die orthodoxe Kirche zufrieden stellen, die Streitkräfte behalten als Standarte das rote Banner der Roten Armee. Monarchisten und Antikommunisten können sich indes über die zaristische Trikolore freuen, die fortan Russlands Staatsflagge sein wird. Am lautesten frohlocken unterdessen die Kommunisten. In der Ära Boris Jelzin hatten sie sich erfolgreich gegen die Abschaffung der bolschewistischen Hoheitszeichen gewehrt. Doch der inzwischen bewährten putinschen Mischung aus Pragmatismus und symbolischen Gesten konnten sie sich nicht mehr entziehen. Im Gegenzug erhielten sie indes auch, was ihnen das Teuerste war: Russlands neue Nationalhymne wird sich der alten sowjetischen Melodie aus der Stalinzeit bedienen.

Nur der Text wurde geändert. Eine Expertengruppe wählte in Windeseile die passende Lyrik aus, die Präsident Putin am Wochenende noch rechtzeitig per Dekret absegnete.

Der auf allerhöchsten Wunsch noch einmal überarbeitete Vorschlag Sergej Michalkows machte das Rennen. Das verwundert nicht. Denn der 87-jährige Autor hatte schon 1944 auf Geheiß Stalins die erste Version gedichtet. Damals lautete der Refrain: „Unverbrüchlicher freier Republiken Bund, vereinigt auf ewig von der großen Rus“. Und etwas weiter im Text jubelte der Autor damals: „Uns erzog Stalin zur Treue am Volk.“ In der Tauwetterperiode der Entstalinisierung ließ Nikita Chruschtschow diese Zeile streichen. 1977 beauftragte man Michalkow erneut mit der Überarbeitung. Nun bescherten „die Partei Lenins und die Kraft des Volkes uns des Kommunismus Triumph“.

Die vorerst letzte Fassung, „Russland, unser geheiligter Staat / Russland unser geliebtes Land“, beschwört im Refrain auch den „jahrhundertelangen Bund von brüderlichen Völkern“, wendet sich aber – zeit- und stimmungsgemäß – einem neuen Patron zu: „Heimische Erde, von Gott beschützt“, heißt es nun.

1943 hatte Diktator Stalin die „Internationale“, die bis dahin Hymne der UdSSR gewesen war, abgeschafft. Mit der Begründung, das Lied der Proletarier reflektiere nicht mehr die veränderten sozialen Gegebenheiten in der Sowjetunion. Stalin hatte dem proletarischen Internationalismus längst abgeschworen und unter dem Deckmantel eines Sowjetpatriotismus vor allem dem Erstarken des russischen Nationalismus Vorschub geleistet. In der Neujahrsnacht 1943/44 ertönte erstmals die neue Weise. Sie stammte aus der Feder des Gründers des Chors der Roten Armee, Generalmajor Alexandrow. Aber auch sie war nicht taufrisch. Alexandrows feierlich-schwülstige Komposition war seit Jahren das Lied der KPdSU. Nun wurde sie zur Nationalhymne und die „Internationale“ Lied der Partei. Die Prioritäten waren klar. Nur der Text musste neu verfasst werden. Das besorgten Sergej Michalkow und der usbekische Dichter Garold El-Registan.

Protest gegen die umstandslose Übernahme der sowjetischen Hymnenmelodie äußerten jetzt vor allem Künstler, Intellektuelle, ehemalige Dissidenten und Politiker des demokratischen Spektrums. Einmal behagte ihnen nicht, dass die brutale sowjetische Geschichte in einem Kuhhandel mit den Kommunisten lautlos entsorgt werden sollte. Doch ließe sich das noch als eine Stilfrage abtun. Schwerer wiegt indes der moralische Schaden, den die Entscheidung auf Dauer anrichtet.

Für Millionen Bürger bleibt die Hymne gleichsam der Erkennungsmarsch des stalinistischen Repressionsapparats und der Willkürherrschaft der KPdSU, der Kommunistischen Partei. Sollen sie, wenn die Hymne erklingt, sich jedes Mal aufs Neue unterwerfen?

Für die Empfindlichkeiten der Stalin-Opfer bringt Wladimir Putin wenig Verständnis auf. Auch scheint der Kreml-Chef es nicht für nötig zu halten, nach einer postsowjetischen Identität Russlands zu suchen, die die Verantwortung für die Geschichte nicht flieht. Boris Jelzin hatte sich damit noch geplagt. Putin schlägt den bequemeren Rückweg ein. Er integriert mühelos den unaufgearbeiteten Komplex des sowjetischen Sozialismus in den schwelgerischen Diskurs des heutigen Patriotismus. Wer daran Anstoß nimmt, exkommuniziert sich selbst. „Weder mit meinem Herzen noch mit meinem Kopf kann ich hinnehmen, dass unsere Mütter und Väter umsonst gelebt haben“, rechtfertigte Putin sein Vorgehen. Die frische Mythenbildung ebnet bewusst Differenzen ein. Die Warnung „Keine Demokratisierung ohne schonungslose Vergangenheitsbewältigung“ muss im Vergleich zu den anrührenden Worten des Präsidenten für die meisten einfach herz- und seelenlos klingen . . .

Dass die Figur des flexiblen Hymnenautors und sowjetischen Kinderbuchautors Sergej Michalkow die gewünschte Kontinuität auch noch personifiziert, mag eher ein Zufall sein. Die adlige Familie der Michalkows mischt seit Generationen gesellschaftlich mit. Besonders hervor tut sich Sohn Nikita Michalkow, der als Filmregisseur seit Jahren die russische Geschichte begradigt. Eines lässt sich dennoch daran ablesen: Russland tut sich mit der Vergangenheitsbewältigung so schwer, weil im Vergleich zu anderen Staaten Osteuropas in Moskau kein nennenswerter Elitenwechsel stattgefunden hat. Die führende Schicht hat vielmehr nur die Ideologie ausgewechselt. Flammende Vaterlandsliebe entspringt heute eher der Angst, ausländischem Kapital zu unterliegen, als der Sorge um Mütterchen Russland.

Ihr sekundieren mittelmäßige Intellektuelle. So zog ein Musikprofessor in der Regierungszeitung Rossiskaja Gaseta gegen die Melodie des Komponisten Michail Glinka aus der Oper „Ein Leben für den Zaren“, die Jelzin ohne Text zur Hymne erhoben hatte, mit dem Vorwurf zu Felde, die Musik sei fremdartig, pompös und kalt. Wer so etwas auswähle, sei für den nationalen Stil taub. Antisemitische Anspielungen waren in der Kritik mit inbegriffen. Dass Glinka immerhin Begründer der nationalrussischen Schule in der Musik des 19. Jahrhunderts war, brachte den Autor nicht ins Grübeln.

„Kein Land kann ohne Hymne leben“, meinte Putin in der Neujahrsansprache. Russland konnte bisher, denn man versteht sich vortrefflich aufs Feiern. Der Präsident behauptet, mit der Entscheidung die Spaltung der Gesellschaft überwinden zu wollen. Soziologen sehen es unterdessen differenzierter. Der deutliche Graben, der die Gesellschaft noch Anfang der 90er-Jahre in zwei unversöhnliche Lager teilte, schließt sich ohnehin. Westliche Werte wie Recht, Freiheit und Individualismus gewinnen an Boden und beißen sich keineswegs mehr mit patriotischen Gefühlen.