Auf dem Motorrad

Aufgehört zu zeichnen hat er nie. Doch erst spät zeigt John Berger, der als Kunstkritiker, Essayist und Romanautor bekannt wurde, wieder seine Zeichnungen, die dem Motorradfahren gewidmet sind

Wie das Gerippe einer Wirbelsäule wirkt das Profil einer Reifenspur, die einmal quer über das Blatt zischt. Denn über den schmutzig schwarzen Abdruck hat John Berger den Rücken eines Motorradfahrers gezeichnet, von oben. Obwohl von der Maschine selbst gar nichts zu sehen ist, ahnt man die Nähe zum Boden, die Reibung am Straßenbelag. Der Körper, mit gebogenem Rücken, hochgezogenen Knien und eng angepressten Ellbogen, ist eigentlich an das Motorrad geschmiegt, man weiß es ja. Aber weil der Zeichner sie ausgelassen hat, erinnert die gekrümmte Figur zugleich an ein Embryo und ein archaisches Skelett, das in Hockstellung begraben ist. Trotz der erkennbaren Helme lässt der expressive Gestus der Linien die Motorradzeichnungen, die bis Januar in der Berliner Galerie Seitz & Partner ausgestellt sind, wie Akte erscheinen. Auf manchen Blättern akzentuiert Berger die Hand am Lenker oder den Fuß auf dem Pedal: Man sieht die Zehen durch den Stiefel, als würde für einen Moment alle Aufmerksamkeit des Körpers in diese Punkte hineinfließen.

„Dein Körper weiß oftmals schneller Bescheid als dein Verstand“, schrieb Berger über die gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit während der Motorradfahrt. Es ist diese Notwendigkeit, sich auf seine Sinne zu verlassen und der Lenkung durch den Blick mit dem Körper zu folgen, die seine Zeichnungen mit dem Fahren verbindet. „Ich zeichne, um vor den Wortgedanken zu flüchten, um eine Art Unschuld wiederzufinden.“ Lange aber hat es gedauert, bevor er dieser Überlistung der Sprache, des Denkens und des Wissens einen öffentlichen Auftritt neben seinen Büchern zutraute.

1926 in London geboren, begann er mitten im Krieg, Kunst zu studieren. „(...) zwischen dem Alarm der Luftschutzsirenen hatte ich nur einen einzigen Gedanken; ich wollte nackte Frauen zeichnen. Den ganzen Tag lang (...)“, schreibt er über fünfzig Jahre später. Seine Laufbahn als Zeichenlehrer und Maler wird in den Sechzigerjahren zurückgedrängt von seinem Erfolg als Kunstkritiker und Essayist. Später folgen Romane, Hörspiele, Drehbücher.

Sein Buch „Ways of seeing“, das in England eine BBC-Fernsehserie ergänzte und unter dem Titel „Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt“ 1974 auf Deutsch erschien, wurde ein populärwissenschaftlicher Hit. Berger entrümpelte die Kunstgeschichte von Künstlermythen zugunsten nüchterner Beschreibungen von Produktionsbedingungen und Auftragsverhältnissen. Er beschrieb den Einfluss der Massenreproduktion auf die Rezeption. Vor allem aber spürte er der Benutzung von Bildern im Kontext der Medien und der Werbung nach und verfolgte sie bis in die Bildrhetorik der Politik hinein. Das war politische Aufklärungsarbeit, die den Bildkonsumenten zur Wachsamkeit erzog. Kein Wunder, dass mit dem distanzierten Blick auf die Rollenverteilung im Kunstbetrieb eine gleichzeitige Teilnahme als Maler nur schwer vereinbar war.

Dabei ließ sich schon in „Ways of seeing“ Bergers Kampf gegen die Verflachung der Erfahrung erkennen, die in der übermächtigen modernen Bildkultur angelegt ist. In vielen seiner Bücher machte er sich zum Anwalt der sinnlichen Erfahrung. In Aufsätzen über Maler wie Goya oder Velázquez versuchte er sich über die Distanz des Kunsthistorikers hinwegzusetzen und die Empfindungen des Betrachters heute in ihr Recht zu setzen.

In „SauErde. Geschichten vom Lande“ schrieb er über die Arbeit der Bauern wie Schlachten und Heuen einerseits aus der Perspektive dessen, der dabei jeden Geruch selbst aufgenommen und die körperliche Anstrengung durch alle Fasern seiner Muskeln hindurchgehen ließ; andererseits aber auch mit dem Blick des Außenstehenden, der weiß, dass sein Überleben nicht mehr davon abhängt.

Seit Jahren lebt er mit seiner Familie in einem Bergdorf in der französischen Haute Savoie. Selbst wenn er einmal im Jahr die Scheiße der Familie und Freunde aus der Grube räumen muss, schafft er es, über den Gestank nachzudenken und anschließend über die Angst vor dem Tod, die den Verwesungsgeruch unaushaltbar macht, zu schreiben.

Den Kontakt nicht verlieren zu den Sinnen: Unter dieses Motto rücken seine Bücher und Zeichnungen umso mehr, je mehr Bildschirme und Projektionsflächen von der Welt Besitz ergreifen. Inzwischen leistet er sich dieses anachronistische Beharrungsvermögen auch mit der Selbstironie eines alten Kämpen, der weiß, dass er verloren hat.

KATRIN BETTINA MÜLLER

John Bergers Motorradzeichnungen zeigt die Berliner Galerie Seitz & Partner bis 20. Januar. John Berger: „Begegnungen und Abschiede. Über Bilder und Menschen“. Fischer Taschenbuch 2000John Berger: „Road Directions. Zeichnungen und Texte“. Kunsthaus Aargau, Edition Unikate Zürich 1999