Die Expertenkaputtklicker

DAS SCHLAGLOCH
von FRIEDRICH KÜPPERSBUSCH

Nun wissen wir, dass Orwells Deutung des „großen Bruders“ nur eine der möglichen war. Mit der souveränen Zuverlässigkeit, die die Wettbewerbswirtschaft im Erfolgsfalle gebiert, steht uns dieses Jahr also noch manch Insel-, Pinsel- und Winselduell ins Haus. Nichts wird an das Original heranreichen. Denn gerade der Tabubruch, der Anhauch von „Gestapo TV“, ist im zweiten bis x-ten Anlauf nur noch der masochistische Versuch, sich an einer offenen Tür wehzutun. Gleichwohl enthält „Big Brother“ ausreichend Hinweise und Anregungen für Formatentwicklungen in 2001.

Für John de Mol mag es nur „ein weiterer Schritt zur Erringung der Weltherrschaft“ sein, wie Dirk Bach beim Deutschen Fernsehpreis trefflich bilanzierte. Für das Genre der „Daily Talks“ ist es der Todesstoß. Für Birte, Arabella, Ricky, Andreas und vorneweg Hans taugte zum Thema, was im Treppenhaus getratscht würde, nähme man noch die Mühe auf sich, vor die Haustür zu wanken. Dem Hausmeister seine Jüngste hat neuerdings ein Piercing, die Alleinstehende unterm Dach empfängt wechselnden Herrenbesuch, mit der Ehe der Parterremieter steht es nicht zum Besten. Versuchen Sie mal, bei der Flurwoche einen Gesprächskreis zu verschiedenen Modellen der Rentenproblematik ins Treppenhaus zu zaubern, und Sie wissen, was Daily-Talk-Redakteure leiden.

Nur zu logisch und zoologisch also, den Betrachter näher ans Objekt der Begierde, ans private Leben heranzubringen. Vom Reden über Privates zur Teilnahme am Privaten führt ein Quantensprung, den das Publikum sich nicht wieder nehmen lassen wird. Die Daily Talks werden sterben. Hans Meiser inthronisierte das Format in Deutschland, die Vorlage war Phil Donaghue bei NBC, Meiser trägt dem Trend und seinem Renommee als Vorreiter mit seinem angekündigten Abgang als Erster Rechnung.

Natürlich offenbart dies erneut den ganzen Unrechtscharakter der DDR. Nichts, was in „Big Brother“ zur Sprache kam, hätte nicht schon seit Jahrzehnten sorgsam gesammelt in Stasi-Akten gestanden. Wer mit wem, wer denkt was, und wer fliegt raus. Die ostdeutsche Öffentlichkeit allerdings durfte allenfalls beifällig Planübererfüllung bei der Wochenaufgabe quittieren; das eigentliche Lesevergnügen in den Akten blieb bis zum Schluss Privileg einer Minderheit: Aus Sicht zeitgemäßen Unterhaltungsfernsehens ist die DDR völlig zu Recht untergegangen. Gegen allen Anschein wird die neue ARD-Show von Joachim Gauck damit nichts zu tun haben; der Ex-Behördenleiter sucht das gute Gespräch und wird schlechte Quoten finden.

Gleichwohl nimmt auch diese TV-Idee den genannten Übertrend auf: Des Redens über und oft unter ein(em) Thema müde, soll das Thema, am liebsten: seine Entstehung, selbst Gegenstand werden. Das ist so weit ein urjournalistischer, moralisch an sich nicht schlechter Ehrgeiz. Unter dem unausgesprochenen Rubrum „Tausche sicheren Wahlkreis gegen Moderatorenjob“ talken Antwerpes, Eggert, Späth, Friedman; talkte Herzog, wollen Gysi und Henkel talken. Nachdem die Sozialisierung vom Provinzbürgermeister zum MdB wesentlich eine nicht enden wollende Abfolge von Interviews ist, müssen bundespolitisch relevante Persönlichkeiten vor allem austrainierte Gesprächsathleten sein. Oder: Was scheren Guido Westerwelle Wahlergebnisse, solange es Einschaltquoten gibt?

So erschließen sich auch die anhängigen Auseinandersetzungen um TV-Übertragungen aus Gerichtssälen oder dem CDU-Spenden-Untersuchungsausschuss. Es begründet sich kaum mehr, dass ein Rudel von TV-Richtern Gartenzaun-Streitereien wiederkäut, während tatsächlich interessante Rechtsfälle unter einem scheinheiligen Mäntelchen des Mandantenschutzes verborgen bleiben sollen. Zum einen wird hinterher doch alles ausgeplaudert; mangels Beweisen wird mitunter mehr ausgeplaudert als überhaupt stattgefunden hat. Zum zweiten mag die TV-Präsenz Unrecht schaffend in die Geschehnisse vor Gericht eingreifen; mag der obsiegen, der nicht Recht, aber Rhetorik hat. Andererseits wären die Big-Brother-Kandidaten aber auch nette Leute, wenn sie sich nicht ins Fernsehen begeben hätten.

Ungebrochen anhalten wird aus allen diesen Gründen der Trend zum Experten. Der ist lexikalisch: „nach lat. expertus: erfahren, kundig, erprobt, bewährt“. Hier treffen sich dem Quizkandidaten seine Mama und der politmoderierende Expolitiker, hier zeugt des Massenmediums Sucht nach Privatheit eigene Geschöpfe wie Verona Feldbusch, Rudolf Mooshammer oder Jenny Elvers, die beim besten Willen eben gerade Experten im Sie-selber-Sein sind. Die Kriterien „erprobt“ und „bewährt“ sprechen dabei wörtlich die Sprache erfahrener Casting-Redakteure. Zu einer guten Talkshow gehört, versuchens Sie es bei einer privaten Feier ruhig selbst einmal: ein Kasper (klug, nett, lustig, sagen wir: Til Schweiger), eine Gretel (hübsch, lieb, nicht ganz stullendoof: nehmen wir Heike Makatsch), ein nicht zwangsläufig böser Zauberer (siehste! Planstelle für in Ehren ergraute Experten, Topbesetzung wäre Peter Ustinov, man kann aber auch Egon Bahr nehmen), ein Polizist (oder Schiri, sollte im Zweifel der Moderator leisten) und ein böses, böses Krokodil. Da greift man gern zum Popliteraten oder Christoph Schlingensief. Oder wagen wir was und leisten uns einen rechtsradikalen Politbembel?

Da haben Vati und Mutti (= Moderatorenpärchen ) zum Wochenausklang (= Fr/Sa/ So) einen interessanten Gästekreis (s. o.) eingeladen, und es ist eine Freude, da wenigstens am Katzentischchen (= Privatheit) dabeihocken zu dürfen. TV ist, wenn man nur einschaltet, statt rumkindern zu müssen: „Ich kann nicht einschlafen, darf ich noch ein bisschen bei euch sitzen?“

Schließlich Internet. Mit Webcam, Chatoption, Web-hit-counter und anderen interaktiven Mitteln mehr ermöglicht entstehendes Netzfernsehen eine neue Dimension der Privatheit; ein direktes Einwirken auf das Gezeigte und zu Zeigende. Das mag den heute entscheidenden Generationen zu anstrengend sein, doch schon drängt die „Hey-Pipi Netzstrumpf, trallahi usw.“-Generation an die Mäuse und klickt kaputt, was uns kaputtlacht. Bis auf Weiteres, respektive Vollversorgung mit preiswerten interaktiven Geräten, wird diese Wunde prothetisch mit www.wirsindauchtollmodern.de-Insert im Abspann versorgt.

So wird es kommen. Freuen wir uns auf den ersten Exexperten; also jemanden, der eingeladen wird, weil er früher mal Experte für irgendwas war. Auf die Marktlücke des Gesprächsgastes, der nachweislich keine Ahnung, nichts zu erzählen und nichts zu sagen hat. „Und Sie sind wirklich volle Kanne langweilig?“ – „Ja, ich schlafe oft vorm Spiegel ein!“ Wäre doch klasse. In Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ dröhnt eine übermannshohe Steinsäule durch die Jahrmillionen, und so richtig erklärt wird nicht, was die nun noch soll. Eine Horde Urmenschen betet das graniten wirkende Ding an, und irgendwie taumelt es am Ende durchs Weltall. Hm. Könnte das nicht das Warentrennstäbchen auf dem Laufband der Supermarktkasse sein? Ein Symbol für „Das gehört mir, das gehört dir“? Mal ein Konzept schreiben, aber schnell.

Autorenhinweis: Friedrich Küppersbusch ist Fernsehjournalist und taz-Kolumnist

Hinweise:Aus Sicht zeitgemäßen Unterhaltungsfernsehens ist die DDR zu Recht untergegangen„Und Sie sind wirklich volle Kanne langweilig?“ –„Ja, ich schlafe oft vorm Spiegel ein!“