Gegen den Damm, gegen die Flut

von BERNARD IMHASLY

Vor dem Büro des „Collector“, dem obersten Bezirksbeamten von Nandurbar im Bundesstaat Maharashtra, fuhren mehrere Lastwagen voller Frauen, Männer und Kinder vor. Sie kamen aus 33 Dörfern am Oberlauf des Narmada-Stroms, die vom Bau des Sardar-Sarovar-Staudamms gefährdet waren. Das Oberste Gericht in Delhi hatte die Erhöhung der Mauerkrone des Damms von 80 auf 88 Metern freigegeben: 55 Dörfer würden dann ganz oder teilweise überschwemmt werden. 33 dieser Dörfer befanden sich in Maharashtra, und dessen Rechtsvertreter hatte dem Bundesgericht versichert, dass für alle Dörfer Land zur Neuansiedlung vorhanden sei.

Dieselbe Garantie gab der Collector auch den Bauern der Bhil- und Bhilala-Stämme, die am 17. März 1999 sein Büro belagerten. Sie gaben sich damit nicht zufrieden und begannen einen Sitzstreik, als sich der Beamte weigerte, ihnen die zugewiesenen Landparzellen zu zeigen. Nach zwei Tagen gab er schließlich nach und schickte seinen Stellvertreter mit den Dorfbewohnern zum einzigen Ansiedlungsort, den er ihnen zu zeigen bereit war. Dort jedoch fanden sie kein herrenloses Brachland vor, sondern Hunderte von Leuten, die dort bereits angesiedelt worden waren und die Felder bebauten. Die Bürokratie hatte wieder einmal gepfuscht: Die Besitztitel für die erste Ansiedlergruppe waren noch nicht ausgestellt worden mit der Folge, dass die Regierung das Land für neue Vertriebene gutgeschrieben hatte, obwohl es bereits vergeben war. Die Bhils und Bhilalas gingen in ihre Dörfer zurück. Zuvor schworen sie, sich gegenseitig Hilfe zu leisten.

Ein weiteres Mal hatte der bürokratische Schlendrian beim Bau des Narmada-Staudamms neue Opfer – und neuen Widerstand geschaffen. Auch vierzig Jahre nach Projektbeginn und zwölf Jahre nach dem Beginn des Baus des größten Damms im westlichen Indien hatten die Projektbehörden und die für die Umsiedlung zuständigen Verwaltungsstellen immer noch nicht gelernt, wie sie den Opfern des Baus eine humane und wirtschaftliche Alternative bieten konnten.

Das dauernde Versagen der Behörden war einer der Gründe gewesen, welche den „Narmada Bachao Andolan“, die Anti-Narmada-Bewegung, bewogen hatte, 1994 vor dem Obersten Gericht einen Baustopp zu fordern. Das Gericht sollte eine unabhängige Kosten-Nutzen-Analyse durchführen lassen. Es sollte auch dafür sorgen, dass die bereits Vertriebenen – der Staudamm erreichte damals 80 Meter – angesiedelt würden, bevor man neue Flüchtlinge schuf. Sechs Jahre brütete das Gericht über sein Urteil. Am 18.Oktober 2000 dann verkündete es Erstaunliches: Mit sofortiger Wirkung durfte der Damm auf 90 Meter erhöht werden.

Mit einer 2:1-Mehrheit machten die Richter dann den Weg frei für den Bau bis zur Endhöhe von 138 Metern. Alle fünf Meter müsse die Projektbehörde, so die Auflage, sicherstellen, dass vor einem Weiterbau die Umwelt- und Umsiedlungsbedingungen erfüllt seien.

Dabei übersahen die Richter geflissentlich, dass bereits beim gegenwärtigen Stand von 88 Metern zahlreiche Familien immer noch nicht wissen, wo sie hingehen sollen.

Das Problem stellt sich besonders im Staat Madhya Pradesh am Oberlauf des Narmada, der 193 der 245 Dörfer – oder rund 33.000 der insgesamt 41.000 Familien – ansiedeln muss. In einer Stellungnahme für das Gericht hatte die Provinzregierung geltend gemacht, dass sie nicht genug Land zur Verfügung habe, um diese Auflage einzulösen, selbst wenn es sich nur um mageres Weideland handelt, das ohne teure Bewässerungssysteme gar keine intensive Nutzung gestattet.

Das Gerichtsurteil warf dem Bundesstaat schlicht Saumseligkeit vor und ließ durchblicken, dass es der Lokalregierung am nötigen guten Willen fehle. Noch härter ging das Urteil mit dem „Narmada Bachao Andolan“ ins Gericht. Er sei entwicklungsfeindlich und wolle den dringenden Wasserbedarf weiter Teile des Bundesstaats Gujarat ideologisch motivierten Umweltbedenken opfern. „Man sollte nicht vergessen, dass gerade Armut eine der Ursachen der Umweltzerstörung ist“, schrieb das Gericht. Die Gruppe unter der Führung von Medha Patkar, die 1991 für ihre Arbeit den Alternativen Nobelrpeis erhalten hatte, war empört.

Das Urteil hatte ihr zentrales Anliegen beiseite gewischt – dass die (Wasser-)Not vieler Menschen nicht beseitigt werden kann, indem man eine neue Not leidende Klasse von Vertriebenen schafft. Es geht ihr um das Grundrecht der unmittelbar Betroffenen, über ihr Leben – ihre Wohnstätten und Dörfer, ihre damit verwobene Kultur und ihr wirtschaftliches Handeln – selber zu entscheiden.

Vertreter zahlreicher Dörfer reagierten bei der Grabstätte von Mahatma Gandhi, dem Philosophen einer nachhaltigen dörflichen Entwicklung, in Delhi mit einem einwöchigen Proteststreik. Petitionen wurden verabschiedet, die Ministerien für Energie und Wasserhaushalt wurden belagert, und Weltbank-Präsident Wolfensohn, auf Besuch in Indien, wurde gezwungen, sich öffentlich von der Unterstützung des Projekts zu distanzieren. Doch der Protest ging in der allgemeinen Narmada-Apathie der städtischen Elite und im Begeisterungssturm, den das Verdikt in Gujarat auslöste, unter.

Die Provinzregierung erklärte den 18. Oktober zum Feiertag, und als einige Tage später offiziell der Wiederbeginn der Bauarbeiten eingeläutet wurde, geriet dieser zu einer politischen Abrechnung mit den Staudamm-Gegnern.

Innenminister L.K. Advani, dessen Wahlkreis in Gujarat liegt, verglich den „Sieg von 2000“ mit den Siegen, den die in seinen Augen erfolgreichen Atomtests vor zwei Jahren und 1999 die kriegerischen Auseinandersetzungen in Kaschmir mit Pakistan darstellten. Ausgerechnet Advani war es, dessen Vergleich des Narmada-Staudamms mit den Nukleartests und einem militärisch starken Staat genau dieselbe politische Verknüpfung herstellte, die vor zwei Jahren die Narmada-Gegnerin und Schriftstellerin Arundhati Roy zwischen den drei Bereichen gezogen hatte. In ihrem Essay „The Greater Common Good“ argumentierte sie, dass der riesige Staudamm mit seiner Überflutung von ganzen Landstrichen eines alten Kulturgebiets ein Ausdruck der Arroganz des Staats ist, der sich zum Herr über Leben und Tod seiner Bürger macht – genauso wie er es mit der Militarisierung im Bereich konventioneller und nuklearer Waffen tut.

Nur in der Kennzeichnung des Feindes unterscheidet sich die Schriftstellerin vom Politiker. Die unterlegenen Gegner sind nicht die Staudammgegner des NBA, auch nicht das Häuflein von Atomgegnern oder das Ausland in Form eines verfeindeten Nachbarstaats oder ausländischer NGOs. Besiegt wird, sagt Roy, in jedem Fall das Volk.