Die Möglichkeiten des Realen

Der Fotograf Christoph Irrgang spielt mit der Präsentation in „Halbzeit in der Glashöhle“  ■ Von Hajo Schiff

Ein Wärter wollte gleich nach der Eröffnung den Raum als noch im Aufbau befindlich wieder schließen. Denn gerahmte Fotografien absichtlich auf dem Teppichboden ausgestellt, das kommt im ordentlichen Museum für Kunst und Gewerbe eher selten vor. Und die Installation des Fotokünstlers Christoph Irrgang wartet noch mit weiteren Merkwürdigkeiten auf: Manche Bilder sind nur in die Ecke gestapelt, über die Wände verteilt finden sich alle möglichen Formate und fotografischen Verfahren samt reproduzierten Texten in bunt gemischter Hängung. Und es gibt in perspektivisch errechneten Verhältnissen verschieden große Fotos eines weißen Wandstückchens aus dem Ausstellungsraum selbst.

Das alles steht als ein Resümee in der Mitte der Produktionsjahre des 39jährigen unter dem seltsamen Titel Halbzeit in der Glashöhle. Die Kamera als ein mit Glasoptik verschlossener Dunkelraum mag hier anklingen, Glashöhle könnte aber auch das Innere einer metaphorisch zu verstehenden subjektiven Bildmaschine meinen, die zugleich Einblicke und Ausblicke anbietet.

Die Ansammlung heterogenen Materials ist für den Hamburger Wortbildkünstler eine Möglichkeit, die jeweils aktuell modische Fotoproduktion zu verweigern und doch den Bildhunger mehr als zu befriedigen. Dabei sind Christoph Irrgang, der schon 1999 die Ausstellung Anonym im Schlachthof organisierte, die eigenen professionell inszenierten Motive nicht wichtiger als gefundenes und reproduziertes Material.

In nahezu allen existierenden fotografischen Verfahren und Bildoberflächen gibt es in dieser Ausstellung wahrlich genug zu sehen: Persönliche Familienerinnerungen, eine als „BIO“ bezeichnete, lecker ins Licht gesetzte Avocado, aufgereihte schlechte New York Schnappschüsse eines Kollegen, elf Holzmusterreproduktionen, auf einzelne Bildpunkte hochvergrößerte billige Sexbildchen, einen rechtwinklig geknickten Baum, Werbefotos der Farbindustrie der sechziger Jahre, das komplette Textband mit dem Kommentar und den Regieanweisungen zu einer Tonbildschau am Katholikentag, eine Postkartenserie über den niedersächsischen Landtag von 1965 und Selbstporträts des Künstlers in blauer Unterhose.

Einst haben die verschiedenen Sparten der Fotografie dazu gedient, jedes der Motive festzuhalten, hier im Zusammenhang dienen sie nun dazu, die unterschiedlichen Strategien der Fotografie vorzuführen und auf die hinter ihnen ste-ckenden Modelle der Wahrnehmung zu verweisen. Dabei findet sich mehr Historie in der Fotografie, als es das frische Image dieser Branche glauben macht: „Wir haben den Heiland gefragt, ob es Sünde wäre, sich photographieren zu lassen“ schreiben zwei Nonnen zu einem Doppelporträt von 1869. Und wenn auch erst zehn Jahre alt, ist diese im Osten dokumentierte Warenspezifikation auch schon Geschichte: „Zuleitungen neue Norm 2 Meter westdeutsches Erzeugnis“. Und investigativer fotografischer Techniken bedurfte es, aus einem Prager Reiseprospekt die eingeschwärzte Stelle wieder lesbar zu machen: „Der Sieg der Arbeiterklasse im Februar 1948 veränderte dann diese Möglichkeiten zur realen Wirklichkeit“.

Tatsächlich ist es in besonderer Weise die Fotografie, die die Möglichkeiten des Realen ausschöpft und mit ihrer Blickvorgabe ein wenig verändert. Das ist nicht neu, aber hier in dieser materialreichen „Höhle“ von Christoph Irrgang anregend präsentiert.

Halbzeit in der Glashöhle, Forum Fotografie, Museum für Kunst und Gewerbe, bis 25. Februar