Mit Bus und Bahn ins Ungewisse

■ Neu im Kino: Das Leben ist kein langer, ruhiger Fluss in Barbara Alberts „Nordrand“

ord und Rand klingt nach doppeltem Unglück, ist aber nur die Wiener Variante von Tenever: weniger munter pulsierendes Herz einer Großstadt als kampferprobte Schrumpfleber. Regisseurin Barbara Albert greift tief hinein ins wilde Puzzle aus Multikulti-Biografien und fischt vier Twentysomethings heraus: die aus Serbien geflüchtete Krankenschwester Tamara, der beim Blick auf traurige Serbienbilder im Stations-TV manche Handtücher durcheinander geraten, was die dumpfbackige Oberschwester partout nicht begreifen kann; die Kaffeehausbedienung Jasmin, die im Schaufenster putzige Marzipanfigürchen drapiert und sich zu Hause in weniger putzigem Prollmilieu mit einem gewalttätigen Vater und einer noch grausameren Mickey-Mouse-Kindertapete herumärgern muss; ein bosnischer Flüchtling, der sich von seiner Geliebten vor Sonnenaufgang im Asylheim davonschleichen muss, um seinen Straßenreinigerpflichten im verschneiten Wien nachzugehen; ein osteuropäischer Schrottwagenhändler, dessen Telefonverbindung zur schwangeren Freundin in der Heimat zusammengebrochen ist. Diese Lebensfäden verwuseln miteinander, aber Anfang und Ende hängen lose in der Luft: In Nordrand kennt das Leben keine ordentlichen Strickmuster mit festen Maschen. Alles ist flüchtig und ungewiss: Beruf, Wohnung und die Liebe sowieso. Doch im Unterschied zum US-amerikanischen generation-X-Film vagabundieren die ProtagonistInnen durchs Leben nicht aus Jux und Tollerei, sondern diverse Kriege nötigen sie dazu, die vor der Haustür und die dahinter.

Am Filmende sitzen alle – wieder mal – in Bussen oder Bahnen, allein doch wackeren Muts auf ihrem Weg ins Ungewisse. Und der poppige Soundtrack sagt: Es ist gut so. Die vorm Fenster vorbeischwebenden Trabantenstädte und stromleitungzerfetzte Himmel sind nicht gerade vertrauenserweckend, aber wunderschön und schwanger von Hoffnung. Da passt es gut, dass im Zentrum des Films die Synchronschwangerschaft der beiden so unterschiedlichen Frauen steht. Der lustigste Moment des Films ist der, wo die beiden Mädels miesest-gelaunt vor ihrem zwergigen Christbaum stehen, „Ihr Kinderlein kommet“ anstimmen und plötzlich herzhaft losprusten. Sie finden das Lied irgendwie unpassend; schließlich haben sie beide erst kürzlich abgetrieben.

Obwohl es in diesem Film mehr Unglücksfälle gibt als Sahnekleckse auf den tröstlichen Torten, die reihenweise gemampft werden, ist „Nordwand“ alles andere als frustrierend. Verantwortlich dafür ist auch die Rolle der Jasmin. Wie Sabrina aus der ersten Big-Brother-Staffel trägt sie stolz ihr dauergewelltes, blondiertes Haar und in jedem Gramm Übergewicht steckt neben dem Frust auch jede Menge Wohligkeit. Passend dazu heißt die Darstellerin Nina Proll und sie wurde bei den Filmfestspielen in Venedig zu Recht mit dem Mastroiani-Preis geehrt. Noch aus den brutalsten Lebenskrisen taucht sie mit einem unerschütterlichen Lachen hervor. Mal ist es feist, doch manchmal reinstes Elfengekickse, zum Beispiel, wenn der erste Schnee fällt.

Am Ende des Films wird sie ein zweites Mal schwanger, und natürlich wird sie es ,ungewollt', weil es „Die Welt als Wille und Vorstellung“ in diesem Film und auch sonst nicht gibt. Bei der Präsentation auf dem Filmfest Braunschweig, so erzählt Kino-46-Mann Alfred Tews, löcherten die Zuschauer Regisseurin Barbara Albert mit der Frage, ob Jasmin ihr Kind behalten wird. Wer weiß das schon, meinte Albert weise. Schließlich ist sie selbst am Rand in Nordrand aufgewachsen. bk

Kino 46, 4.-9. 1., 20.30h