Joggen, bis Blut spritzt

Wenn die Natur in Gestalt eines unnachgiebigen Mäusebussards zurückschlägt

Eine blutige Schramme entstellte mein Gesicht, von der Stirn bis zur Wange

Man muss nicht deutscher Außenminister sein, um zu joggen. Jogging ist immer eine Demonstration, die normale Menschen hämisch grinsen oder angewidert starren lässt. Nur selten jedoch hassen menschliche Artgenossen die Schnellläufer so, dass sie handgreiflich werden.

Tiere besitzen da weniger Skrupel, vor allem wenn sie zwei meterlange Flügel, ausgezeichnete Augen, nackte Läufe mit scharfen Krallen und einen gebogenen Schnabel besitzen. Buteo buteo, der Mäusebussard, hatte schon 1993 im Landkreis Neu-Ulm zugeschlagen. Ich hatte davon gehört und die Sache rasch in den Bereich der modernen Mythen verwiesen. Bis zu jenem Wintermorgen, als ich bei meiner Umrundung der Burg Hohenzollern im schwäbischen Zollernalbkreis plötzlich einen sanften Aufsetzer im lichten Haupthaar spürte: Buteo buteo hatte mich wortlos eines Besseren belehrt!

Ungläubig sah ich den großen braunen Schatten im Geäst einer alten Eiche am Wegrand verschwinden: abstreichen, wie der Ornithologe sagt. Sollte der Greif sich getäuscht und mich für eine Maus gehalten haben? Oder besser für einen im Wind schaukelnden Baumstumpf? Ich war gewillt, es dem hübschen Tier nachzusehen, und hatte die Sache bis zur nächsten Trainingseinheit halb vergessen. An der alten Eiche vorüberkeuchend fiel sie mir wieder ein, besser gesagt: die Kreatur mich wieder an! Diesmal war die Berührung schon etwas heftiger. Ich nahm einen Stein und schickte ihn dem unnachgiebigen Vogel entgegen, als er frontal erneut zuschlagen wollte. Verfehlt! Immerhin begriff er, dass ich ihn bemerkt hatte, und folgte mir in geziemendem Abstand.

Um ihn zu täuschen, lief ich beim nächsten Mal mit übergezogener Kapuze. Hundert Meter nach der Eiche atmete ich auf. Ein vom Bodenwind über den Waldweg gewehter Baumstumpf mit blauer Kapuze lockte ihn offenbar nicht. Denkste: Ratsch! Der zarte Stoff war krallengezaust. Ich schlug das Visier, pardon, die Kapuze zurück und schleuderte alles, was der lichte Mischwald hergab: Tannenzapfen, Holzprügel, mittelschwere Pilze. Ich wich vom Weg ab, verfolgte den Verfolger. Als ein Anti-Franz-von-Assisi hielt ich der geflügelten Bestie, die einige Meter über mir auf einem Tannenast aufgeblockt hatte (wie der Fachmann simpelt) eine Standpredigt. Ja war ich denn von Sinnen? Ich predigte befiederten Ohren.

Nach der nächsten Runde zitterte ich am ganzen Körper. Eine blutige Schramme entstellte mein Gesicht, von der Stirn bis zur Wange, einen Zentimeter vom zuckenden Auge entfernt. Mein Widersacher hatte gesiegt. Befreundete Jogger, die ich bat, einmal die Schreckensroute auszuprobieren, wollten bei wiederholten Testläufen nichts Bedrohliches bemerkt haben. Kein Sturzkampfbomber im Federkleid. Ich änderte meine Taktik und mutierte vom Jogger zum Walker. Umsonst. Das gefiederte Ungeheuer, erzengelgleich, war wieder da, ließ nicht ab. Da schien mir klar: Er hatte mich gezielt ausgewählt. Die große Natur sprach zu mir. Sie sagte: „Du – und ich meine nur dich – joggst fortan hier nicht mehr!“ Sie behielt Recht. Ich zog schon bald hoch in den Norden, in die Nähe eines zivilisierten Wäldchens, wo Buteo buteo bislang nicht beobachtet wurde.

Im Berliner Plänterwald gibt es keine Greifvögel. Hier beleben außer Kampfhunden nur die Herren vom Kampfmittelräumdienst mit ihren Metalldetektoren das lichte Unterholz. Manchmal jedoch meldet sich der geweckte Instinkt. Ich fahre zusammen und übe den Rückwärtslauf, die Augen weit aufgerissen in die Baumkronen gerichtet. Aber dort sitzt niemand. Und unter den Wipfeln läuft nur ein Jogger. Er sieht aus wie ein Außenminister, der mich verfolgt. TOM WOLF