Frankenstein ist Mr. Hyde

Alte neue Angst: Die populäre Kinomythologie war der Genforschung stets weit voraus. Schon Rock Hudson hat Embryonen manipuliert, und aus Hitlers Zellen wurde eine ganze Naziarmee geklont

von GEORG SEESSLEN

Für alles, was uns bewegt, gibt es in unserer populären Kultur Abbilder, Verhandlungen, Lösungen. Das Problem ist nur, dass sich diese abertausend kleinen Erzählungen und Gleichnisse insofern vom großen heiligen Text, von der Mythensammlung oder der Nationallegende nicht sonderlich unterscheiden, als dass alles indirekt, widersprüchlich und mehrdeutig ist. Für das, was die Zukunft anbelangt, ist bei uns das Genre der Science-Fiction zuständig, eine Art bildhafte Katastrophenfantasie, deren erste Aufgabe darin besteht, für das, wovor wir Angst haben, überhaupt einmal Bilder und dann, irgendwie, „Erklärungen“ zu finden.

Deswegen kann aus der Angst vor der Atombombe ein Urweltdrache namens „Godzilla“ werden. Aus antikommunistischer Paranoia eine außerirdische Invasion. Aus der Angst vor einer Wissenschaft, die unsereins weder mehr verstehen noch gar kontrollieren kann, der Mad Scientist, der, in wechselnden Reihenfolgen, hinter der Weltherrschaft, dem Mädchen deiner Träume oder Leichenteilen aus dem Krankenhaus bzw. vom Friedhof her ist. Während Godzilla schon immer ein weibliches Wesen war (fragen Sie in Japan nach, warum), ist die weibliche Ausgabe des Mad Scientist vergleichsweise neu auf dem Markt der Fantasien. Aber sie stellt auch nicht weniger sexuell getönten Unfug an als ihr männlicher Widerpart.

Vom Cyborg zum geklonten Horror

Bei Behandlung unserer Probleme in der populären Mythologie erfolgt dann als zweite Fatalität der Griff in das, was man früher mal so forsch das „kollektive Unterbewusstsein“ genannt hat. Man könnte sagen: Es gibt keine neue Angst, die nicht die Wiederkehr einer alten Angst ist. Oder: Es gibt kein wissenschaftliches Problem, das nicht die Wiederkehr eines mythischen Problems ist. Jedenfalls dann nicht, wenn uns die Sache tiefer angeht als die „Wunder der Wissenschaft“ oder „Galileo“ im Fernsehen.

Wenn die Wissenschaft in Form des Mad Scientist wieder mal ein Ungeheuer gebiert, dann wird es sogleich zum Monstrum. Das heißt: zum Zeichen. So wird aus der Angst vor Aids nicht bloß ein Blut saugendes Parasitenwesen, das aus den Labors der verrückten Forscher entkommt, sondern auch noch eines, das sich genau auszusuchen scheint, wen es anfällt und wen es entkommen lässt. Oder welches Opfer notwendig ist, um es zu bannen. Womit wir bei Fatalität Nummer drei in der populären Mythologie wären: Der Verwandlung von Traum und Albtraum in Ideologie.

Die Herstellung eines künstlichen Menschen ist einer der ganz alten und zugleich immer wieder neuen Mythen. Dieser Wahnwitz taucht bei den ollen Griechen ebenso auf wie im abendländischen Mittelalter, in Indien wie in Amerika, es gibt ihn in einer religiösen und einer wissenschaftlichen Form, als Herstellung der belebten Puppe, als Halbwesen zwischen Tier und Mensch, als denkende Maschine, als „androide“ Summe aller erdenklichen Formen des Fortschritts, als Computer, der menschliches Empfinden oder Denken so lange imitiert, bis man nicht mehr weiß, ob es schon das echte, was sage ich: das noch echtere Menschliche ist.

Es gibt den „gebastelten“ Menschen, von Frankensteins Ungeheuer, es gibt ihn als Roboter und Cyborg, Ausdruck industrieller und postindustrieller Produktionsweisen, und schließlich gibt es die menschliche Parallelschöpfung aus der Retorte: der gezüchtete Mensch, der nur zum „Genetic Monster“ oder zum „Clonus Horror“ werden kann. So heißen zum Beispiel Filme, in denen die neuesten Varianten des künstlichen Menschen zu sichtbaren Monstren fantasiert werden. Als Monstren der Wissenschaft richten sie sich gegen „die Schöpfung“, was prompt dazu führt, dass sich diese frivolen Geschöpfe wiederum gegen ihre Schöpfer richten.

Wenn einer künstliche Menschen erzeugt, dann werden die ihn früher oder später am Wickel haben, das ist mal sicher, von Frankenstein bis „Blade Runner“. Von jemandem, der Jungfrauengehirne in Gorillakörper verpflanzt, mal ganz abgesehen. Zuerst einmal ist, in unseren Breiten, die Sache ein religiöser Frevel. Sowohl die Schaffung eines „Menschen“ als auch die Wiederauferstehung von Toten – und daher als Zwischending auch jene Verdoppelung, die man wohl durch das Klonen erreichen kann – sind einzig und allein Gottes Sache. Nun wissen wir aber spätestens aus den Paulus-Briefen auch von einem anderen göttlichen Auftrag, nämlich davon, alle Talente zu nutzen, die Erde „untertan“ zu machen. Das Ganze war also schon immer eine ziemlich widersprüchliche Angelegenheit.

Das Klonen widerspricht allerdings der klassischen „wissenschaftlichen“ Weltsicht, die mit der christlichen zumindest die lineare Logik gemein hat. An die Stelle der Schöpfungsgeschichte trat eine lineare Erzählung von Darwins Entstehung der Arten, aber auch, noch einmal, von einem zwar störungsanfälligen, aber doch im Ganzen linearen Prozess der Zivilisation. Die letzte und höchste Instanz dieser Entwicklung ist das bürgerliche Individuum, das „Ich“. Zwar muss es sich endlos und gelegentlich reichlich mörderisch mit den Instanzen Über-Ich und Es herumschlagen, als Belohnung für seine strebenden Bemühungen wird es aber als „ungeteilt“, ja unteilbar, aus story und history entlassen. Das Ich als Subjekt in der Welt – je hartnäckiger man auf dieser letzten Instanz, die den Tod der Götter ebenso überlebt hat wie den Verlust dieser oder jener Illusion, beharrt, desto besessener wird man natürlich von allen Fantasien, die genau dies zum Inhalt haben: die Teilung des Unteilbaren.

Was also in der Schaffung von Frankensteins Monster noch so etwas wie ein metaphorischer Frevel ist, das wird bei der schaurigen Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde zum subjektiven, also wiederum bürgerlichen Empfinden. Entweder also kann dieser Ich-Mensch als Krone der Schöpfung und der freien Marktwirtschaft, einen frankensteinartigen Konkurrenten gebastelt bekommen, von dem man nicht genau weiß, ob man sich vor seiner Vollkommenheit oder vor seinen Defekten mehr fürchten soll, oder aber dieses Individuum teilt sich in ein Böses und ein Gutes –zum Beispiel in einen mehr oder minder impotenten Mann und einen brünstigen Werwolf.

Frankenstein undMr. Hyde in einem

Der Eingriff ins Genetische, in die Erbmasse also, dieser Frevel gegen die Götter, gegen die Linearität, gegen das Ich-Ideal, gegen die so balancierte „Natur“ und schließlich gegen die leiblichen Eltern, die sich so viel Mühe mit uns gegeben haben, fasst daher die beiden Urängste (und das heißt immer auch: Urwünsche) der bürgerlichen Person zusammen: Das Genetic Monster ist Frankensteins Ungeheuer und Mr. Hyde in einem.

Man sieht dabei auch, in wessen Namen ich gegen den Clonus Horror protestieren kann und muss: Gott, Vater, Mutter, Vernunft, Natur, Geschichte – hab ich was vergessen? Aber unsere Mad Scientists scheinen sich von alledem kaum beeindrucken zu lassen. Mit einer zähen Beharrlichkeit arbeiten sie weiter an der Schöpfung des Parallelmenschen, des gezüchteten, manipulierten, verdoppelten, ent-Ichten Menschen, ganz so, als hätte die Welt nicht schon am „echten“ Menschen genug zu tragen. Aber vielleicht gehen die Damen und Herren aus ihren Laboratorien und sinistren Hospitälern einfach nicht genug heraus.

Zum Beispiel ins Kino; da könnten sie sehen, was sie davon haben werden: zum Beispiel „Embryo“ (1976, Regie: Ralph Nelson) wo Rock Hudson, jawohl der Rock Hudson, zuerst mit tierischen Föten herumspielt und dann einen menschlichen Embryo genetisch manipuliert, woraufhin ein Wesen ohne Seele entsteht, das sich in den Schöpfer verliebt und nebenbei zur Serienmörderin wird. Oder Franklin J. Schaffners „The Boys from Brazil“ aus dem Jahr 1978, wo KZ-Arzt Dr. Mengele (Gregory Peck) in den südamerikanischen Urwald geflüchtet ist und 94 Menschen aus den Zellen Adolf Hitlers klont. Damit aber nicht genug: In „Shock Waves – Die aus der Tiefe kame“ (1976) spinnt Ken Wiedehorn das Szenario weiter. In seinem Film hat ein gemeiner deutscher Wissenschaftler einfach alte Nazisoldaten wieder geklont und will mit einer riesigen Klonarmee das Vierte Reich errichten.

Die Rache der bissigen Genforscher

Immerhin schlägt der Frevel im Kino hin und wieder auch zurück: In Hal Barwoods „Warning Sign“ von 1985 erwischt es die Wissenschaftler selbst: Ihre Gen-Murksereien gelangen in ihr Blut und verwandeln sie in mörderische Amokläufer. Kein bisschen besser geht es dem Genetiker in „Metamorphosis“ (1989, Regie: Glenn Takjan). Die Straßen sind voll von bissigen Genforschern! Oder von menschengroßen und menschfressenden Genkatzen wie in „Metamorphosis II“.

Und wer profitiert von dem ganzen Wahnsinn, in der Wirklichkeit wie im Kino? Natürlich die Konzerne. In G. Philip Jacksons „Replikator“ (1994) konkurrieren zwei Riesenunternehmen um die Herstellung des perfekt geklonten Menschen, der von seinem Urbild nicht mehr zu unterscheiden ist. Ergebnis: Handelskrieg mit unfeinen Mitteln.

Und apropos Krieg. Natürlich ist der erste Interessent an irgendwie Gen-gepolten Soldaten die sowieso kaum noch zu bändigende Rüstungsindustrie: „Universal Soldier“ – eben. Zumal es quantitativ sowieso kein Halten mehr gibt, und zwar quer durch die Hollywood-Jahrzehnte: Einem unzufriedenen Partner schenkt man in Zukunft einen Klon für jede Gelegenheit. In „Vier lieben dich“ (1996, Regie: Harold Ramis“) gibt es Michael Keaton auf diese Weise gleich viermal. Zwanzig Jahre zuvor erzählte „Clone Master“ von einem Biochemiker, der sich selbst dreizehnmal klont und dann natürlich den Überblick über sich selbst verliert. „Gattaca“ von Andrew Niccol malt sogar schon den Sieg der Retorte aus. Der Mensch der Zukunft ist hier ein genmanipuliertes Wesen, gegen das die übrig gebliebenen „echten“ kaum mehr eine Chance haben. Nicht so wie Arnold Schwarzenegger, der es mit allen, sogar mit seinem eigenen Klon, aufnimmt!

Also, meine Damen und Herren in den Laboratorien und Post-Kreißsälen: Lasst ab von eurem frevlerischen Tun! Das gibt ein heilloses Durcheinander. Sagt wenigstens nicht, ihr wärt nicht gewarnt worden. Und lest auf keinen Fall bei Stanisław Lem nach. Der hat nämlich behauptet, dass alles, was wir uns vorstellen können und was sich technisch realisieren lässt, früher oder später auch gemacht wird.