Märchen für alle

Junge Unternehmer als Helden, Aktienkurse als Handlung: Die Neue Ökonomie ist ein Roman

von BARBARA DRIBBUSCH

Mit Humor geht alles besser. „Chinesisch für den Neuen Markt“ erfindet jemand im Chatforum von Wallstreet-online. Aktien, die am Neuen Markt notiert sind, heißen „Lu-Schen“, Analysten am Neuen Markt sind „Lu-Schen-Puh-Scha“ und der Oberbegriff für alles ist „Shai-Seh“. So ist zumindest die Stimmung. Die Werte der Neuen Ökonomie brechen ein – und jetzt zeigt sich, dass die Psychologie der Mediengesellschaft inzwischen auch die Wirtschaft durchdrungen hat.

Während noch in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres die Euphorie herrschte, ist jetzt die Panik ausgebrochen am Neuen Markt, also der Börse, an der Software-, Internet- und Biotechnologieunternehmen notiert sind. Die Anleger verkaufen, sicherheitshalber, und drücken so die Kurse weiter nach unten.

Der Absturz ist ebenso irrational wie der Höhenflug zuvor. Die neue Wirtschaft folgt nicht mehr in erster Linie den Gesetzen von Angebot und Nachfrage nach konkreten Produkten, sondern fast mehr noch den Gesetzen von Angebot und Nachfrage nach Mythen, Helden und Hoffnungen.

Jahrelang konnten Firmen wie der Software-Anbieter Intershop oder die Multimedia-Agentur Pixelpark Verluste machen, trotzdem wurde diesen Unternehmen eine große Zukunft vorausgesagt. Die Aktienkurse stiegen, die Medien berichteten, was wiederum Kleinanleger zum Kauf veranlasste und die Kurse weiter nach oben trieb. „Schnelligkeit ist der zentrale Faktor“, verkündete Pixelpark-Gründer Paulus Neef und warf sich mit Schambach mediengerecht in Pose. Die Neue Ökonomie wurde zur neuen Alternativkultur.

Die Gründer der Neuen Ökonomie „haben keinen Respekt vor dem Status quo; das Durchschnittsalter der Belegschaft ist kaum höher als 30 Jahre; Firmengründer sind binnen weniger Jahre zu Millionären avanciert“, so gab die Wirtschaftswoche die Klischees eins zu eins weiter. Doch so ungebrochen waren selbst die jungen Helden nicht: Manche der jungen Millionäre mit ihren halbphilosophischen Sprüchen über „commitment“, „branding“ und „content providing“ gaben sich wie ironische Zitate der klassischen Kapitalisten, so, als nähmen sie ihre Rolle angesichts des Medien-Hypes selbst nicht ganz ernst.

Nicht nur der Hunger nach Helden und Mythen, auch die Dynamik der Medienbranche selbst verhalf der Neuen Ökonomie zum Aufschwung. Journalisten und PR-Mitarbeiter profitieren ganz besonders vom Internet, dessen Möglichkeiten ihre Arbeit radikal verändern. Was aber liegt näher, als dass Leute, die von Berufs wegen zunehmend am Netz hängen, dies in ihren Medien auch als Heilslehre für die Gesamtwirtschaft propagieren?

Auch so entstand ein Beschleunigungseffekt, ohne dass in der Gesamtbevölkerung eine entsprechende wirtschaftliche Nachfrage existierte. Jeder Dritte in Deutschland surft zwar öfter im Internet, aber die meisten kaufen doch lieber im real existierenden Laden ein und nicht mal zehn Prozent arbeiten in der Informationswirtschaft.

Das Märchen von der Neuen Ökonomie hätte aber auch keine Zuhörer gefunden ohne eine Gesellschaft, in der immer mehr Geld vererbt und materielle Vorsorge privatisiert wird. Die Deutschen besitzen ein privates Geldvermögen von 6,75 Billionen. Die Summe hat sich seit 1990 verdoppelt. Im vergangenen Jahr schichteten viele ihre Vermögen um und investierten zunehmend in Aktien – wer es riskanter wollte, stieg in den Neuen Markt ein. Der Anteil der Aktien- und Fondsbesitzer an der Bevölkerung stieg von 9 Prozent im Jahr 1997 auf fast 18 Prozent im vergangenen Jahr.

„Der Zug zur Aktie ist ungebremst“, freute sich der Geschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, Jörg Pluta, noch im Herbst vergangenen Jahres. Wer nur noch auf „Omas Sparbuch“ setzte, galt als Verlierer. Im Rückblick des Gesamtjahres von 2000 aber hat nun das Sparbuch doch eine höhere Rendite erwirtschaftet als die deutschen Standardaktien- eine Folge der Kursverluste seit dem Herbst.

Ein breites gesellschaftliches Lamento angesichts der Kursverluste kann es jedoch nicht geben, das liegt in derNatur der Sache. Wer im vergangenen Jahr mit der Hoffnung auf satte Gewinne einstieg und damit sein Vermögen halbierte, hat keinen Anspruch auf Mitleid. Schließlich haben alle freiwillig mitgemacht. „Behavorial finance“, die Lehre vom irrationalen Verhalten der Kleinanleger, hat sich in den vergangenen Monaten zur trendigen Wirtschaftslehre entwickelt – auch das ist nur eine neue Erzählung. Fortsetzung folgt, schon morgen in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen.