Gericht: Satt und sauber ist Leben genug

■ Während PolitikerInnen sich im Aussitzen üben, schafft das Oberverwaltungsgericht in einem Urteil nach dem anderen das Landespflegegeld ab / Kritiker und Betroffene: Missachtung der Verfassung

Das Oberverwaltungsgericht (OVG) vollzieht derzeit die Abschaffung des Landespflegegeldes. So interpretieren AnwältInnen und Betroffene aktuelle OVG-Urteile über die Landesleistung, die Blinden und Schwerstbehinderten aufgrund ihres „behinderungsbedingten Mehraufwands“ gezahlt wird. Dazu gehören Kosten unter anderem für Begleitung oder für Vorlesekräfte oder auch höhere Telefonkosten. Das Landespflegegeld beträgt 750 Mark im Monat.

Das Gesetz, das all diesen „Mehraufwand“ anerkennt, wurde 1972 geschaffen, um Blinden und Schwerstbehinderten „in Erkenntnis der Erschwerung ihrer Lebenssituation ohne Rücksicht auf Einkommen oder Vermögen zu mehr Chancengleichheit beim Leben in der Gesellschaft zu verhelfen.“ Deshalb handelt es sich beim Landespflegegeld um eine Leistung, die jeder Blinde oder Schwerstbehinderte bekommt – egal, wieviel Geld er selbst verdient oder besitzt.

Das Gesetz ist veraltet, darin sind sich Behindertenverbände und PolitikerInnen einig. Denn inzwischen gibt es die Pflegeversicherung. Ihr Zweck und der des Landespflegegeldes überschneiden einander. Aber nur teilweise, nicht gänzlich. Die Pflegeversicherung deckt nicht die Kosten für das, was Leben mehr ist als nur „satt und sauber“.

In Bremen urteilt das OVG jetzt jedoch so, als seien Pflegeversicherung und Landespflegegeld dasselbe. „Das OVG geht von Zweckindentität aus“, formuliert Rechtsanwältin Doris Galda. Sie sieht einen Widerspruch in den „Gründen für das Gesetz und in dem, was jetzt das OVG daraus macht“.

So sieht es auch Rechtsanwalt Günther Hoffmann, der Mitglieder der Lebenshilfe vertritt. Das OVG urteilte in einem seiner Fälle, dass bei ambulanter Versorgung der Betroffene keinen Anspruch auf Landespflegegeld hat, bei vollstationärer Versorgung immerhin noch auf die Hälfte des Geldes. Hoffmann über das Urteil: „Wenn jemand im Heim lebt, ist seine Versorgung in Sachen sozialer Anteilnahme reduzierter als bei einem, der zu Hause lebt und von Verwandten gepflegt wird.“ Das sei eine „bittere Rechtsprechung“, findet auch Doris Galda. Jurist Hoffmann fürchtet, dass ausgehend von diesen Urteilen, das Sozialressort das Landespflegegeld abschaffen wird.

Genau das ist geplant. Der sozialpolitische Sprecher der SPD, Frank Pietrzok sagt, die Fraktionen hätten sich auf die Abschaffung verständigt. Zwar sollen bisherige Bezieher diese Leistung auch fortan bekommen, neue Fälle jedoch nicht mehr. Es treffe schließlich keine Armen, die bekommen immer noch Mittel aus der Sozialhilfe.

Die Menschen, um die es geht, schließen die Reihen. Am 10. Januar treffen sich verschiedene Verbände bei der Landesarbeitsgemeinschaft Hilfen für Behinderte (LAGH), um die Basis für eine gemeinsame Strategie zu schaffen.

Die Abschaffung dieses Geldes „wäre für die Blinden eine Katastrophe“, sagt Karl-Heinz Weiser, Vorsitzender des Bremer Blinden- und Sehbehindertenvereins. Der Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband warnte in einer Resolution vor der Demontage des Landespflegegeldes, die ähnlichen Plänen in anderen Bundesländern Tür und Tor öffnen würde. „Behalten Sie das Gesetz bei“, appellierten deshalb die Blinden- und Sehbeindertenvereine der ganzen Republik an die Bremer PolitikerInnen. Bisher, berichtet Weiser, habe ihn darauf keine Reaktion erreicht.

Die Gehörlosen, die bisher nicht berücksichtigt waren und nun trotz Abschaffung des Landespflegegeldes mehr Geld als bisher bekommen sollen, pochen keineswegs nur auf ihre Interessen. Heinz Niemeyer vom Landesverband der Gehörlosen: „Alle Behinderten-Gruppen müssen zusammenhalten.“

Horst Frehe vom Verein „Selbstbestimmt leben“ scheint gelassen bis resigniert. Diese Rechtssprechung habe sich schon angedeutet. „Die Leute in Heimen, die Pflegeversicherungsleistungen bekommen und die wir besonders schützen wollen, kriegen wenigstens noch das halbe Landespflegegeld.“ Aber eine Prüfung, ob eine solche Verschlechterung nicht die Landesverfassung verletze, die eine Verringerung der Benachteiligung Behinderter und eine verbesserte Teilhabe zusichere, habe das OVG überhaupt nicht in Erwägung gezogen.

Gemeinsam mit anderen hatte Frehe vor zwei Jahren einen eigenen Entwurf für ein neues Landespflegegeldgesetz vorgelegt – ohne Erfolg. Die Grünen wollen einen Ausschuss einrichten, der dem Thema ein Podium gibt. Nach dem Willen von SPD und CDU soll es jetzt nur eine Arbeitsgruppe – von weit weniger Bedeutung als ein Ausschuss – geben.

Susanne Gieffers