„Glotzaugen und nervöses Ohrenspiel“

Rinderseuche BSE: Nach der jahrelangen „kollektiven Vernebelung“ herrscht nun ein dramatisches Informationsbedürfnis

BERLIN taz ■ Robert Koch hat's von Wolke sieben aus mit Freuden gesehen: Tumultartige Szenen auf „seinem“, dem nach dem großen Virologen benannten Platz. Hunderte von Besuchern knäulten sich am Mittwochabend in das BSE-Symposium der Berliner Medizinischen Gesellschaft. Hunderte mussten draußen bleiben, weil die Veranstaltung völlig überfüllt war. Wie auf einem Popkonzert saßen die Besucher eng geknautscht auf dem Boden. Im zweiten Saal, in dem die Vorträge per Videoleinwand live übertragen wurden, dieselbe Drängelei. Und vor der Türe zeterten die Ausgesperrten, bis der entnervte Veranstalter Helmut Hahn den eisernen Schwur leistete, die Vorträge zu wiederholen.

Drinnen begrüßte Hahn acht gestandene Wissenschaftler und versprach den Besuchern, ein „voll gültiges fachgerechtes Bild“ von der Rinderseuche. Doch schon der erste Experte, Michael Baier vom Robert-Koch-Institut, stellte klar, dass große Wahrheiten an diesem Abend schwer erhältlich waren. Schon die jahrelang gehandelte Haupthypothese zum Ursprung der Seuche stehe auf wackeligen Beinen. Wenn es denn stimme, dass BSE von der Schafskrankheit Scrapie stamme und über Tiermehl verbreitet wurde, warum, so Baier, sei dann bei Schafen keine Zunahme von Scrapie feststellbar? Gute Frage.

Baiers übrige Fakten waren eher geeignet, nervöse Esser zu beruhigen: Milch und Milchprodukte seien sicher; BSE sei wesentlich weniger infektiös als Scrapie. Auch die Sorge um das liebste deutsche Nutzvieh konnte er zerstreuen. Beim Schwein hätten britische Wissenschaftler per Fütterung von Rinderhirn keine Infektion auslösen können. Bei älteren Zuchtsauen sei zudem nie eine BSE-ähnliche Krankheit bekannt geworden. Schon wollte man sich behaglich zurücklehnen, zumal Baier die europaweite BSE-Lawine austrudeln sieht. Aber was ist in Frankreich los? Die BSE-Fälle haben sich dort im Jahr 2000 verfünffacht – von 31 auf 153 Fälle, eine „fulminante Entwicklung“.

Baier berichtete nüchtern, schwenkte bald auf die molekulare Ebene und enthielt sich jeder Bewertung des Risikos. Der Berliner Neurologe Peter Marx nahm dagegen die Stimmung im Saal direkt auf: „Es geht eine Angst um in Deutschland!“ Und Marx weiß auch, woher sie kommt. BSE sei schließlich eine neue, geheimnisvolle Krankheit. Aber er hat noch andere Gründe entdeckt: die „kollektive Vernebelungsaktion“, die jahrelange Verleugnung und Verschleierung. Jetzt müsse ehrlich und wahrhaftig informiert werden, alle Abschätzungen zum weiteren Verlauf der Erkrankungswelle bei Menschen seien in der Tat unseriös.

Marx sprach den Besuchern aus dem Herzen, doch niemand applaudierte. Die zuvor gezeigten Bilder von BSE-kranken Schweizer Kühen, die fast lebensgroß an die Wand geworfen wurden, hatten für Stille gesorgt. Tiere rappelten sich auf, stürzten, zitterten schreckhaft und blickten starr an die Decke, während der Kommentator das „nervöse Ohrenspiel“, den „hahnentrittähnlichen Gang“ und die „ängstlichen Glotzaugen“ beschrieb. Mitleid mit der Kreatur ist in der BSE-Debatte sonst eher selten.

Wenig Mitleid gab es für die Futtermittelhersteller. Veterinär-Professor Ortwin Simon entlarvte genüsslich die Mär von der „Eiweiß-Lücke“. Tiermehl habe lediglich vier Prozent des Futters ausgemacht und sei gut ersetzbar. Auch die Tests wurden diskutiert. 20.000 Kühe werden pro Woche in Deutschland getestet. Sieben BSE-Fälle wurden dabei entdeckt, sieben zu viel. Am Ende gab es doch noch was zu lachen. Die Pathologin Gisela Stoltenburg-Didinger korrigierte unsere Vorstellungen vom löchrigen, schwammartigen BSE-Hirn. Wer hier an Schweizer Käse denke, irre sich gewaltig. Ihr Eindruck: „Höchstens Tilsiter!“ MANFRED KRIENER