Marzahn steht auf der Kippe

Ungleiche Stadt: In den Altbau- und Plattenbauquartieren nimmt die Abwanderung zu, Weißensee und Köpenick dagegen wachsen. Experten warnen vor der Entstehung von Problemgebieten

von UWE RADA

Massive Abwanderung in Marzahn und Friedrichshain, deutliche Zuwächse in Weißensee und Köpenick: die Berliner Bevölkerungsentwicklung markierte auch 1999 einen Trend zur ungleichen Entwicklung. Nach den neuesten Zahlen des Statistischen Landesamtes verschärfte sich der Fortzug aus den innerstädtischen Gründerzeitgebieten und den Plattenbaubezirken, während der Zuzug ins Eigenheim innerhalb der Stadtgrenzen anhielt. Der Bevölkerungsverlust Berlins ans Umland, in andere Bundesländer sowie ans Ausland schwächte sich dagegen ab. Verlor Berlin 1998 per Saldo noch 21.325 Bewohner, waren es 1999 nur noch 7.015.

Betrachtet man Zuzüge und Fortzüge in den einzelnen Bezirken, stellt man fest, dass 1999 nur 5 der ehemals 23 Bezirke Wanderungsgewinne verbuchen konnten: So stieg zum Beispiel die Einwohnerzahl von Weißensee von 70.467 im Dezember 1998 auf 74.084 im Dezember 1999. Im Januar 1994 waren es noch 53.204 Einwohner. Je 1.000 Einwohner zogen im vergangenen Jahr in Weißensee damit 69,4 Menschen zu. Zuwächse verzeichnen auch Köpenick (25,6 pro 1.000 Einwohner), Pankow (21,9) sowie in geringem Maße Treptow (10), Charlottenburg (4,9) und Steglitz (4,7).

Weitaus größer als die Bevölkerungszuwächse sind die Abwanderungen, vor allem aus den östlichen Stadtteilen. So ging in Marzahn die Bevölkerung 1999 von 143.407 auf 140.166 zurück. Fünf Jahre zuvor lebten dort noch 163.609 Bewohner. 1999 betrug die Abwanderung damit im Saldo 35 pro 1.000 Einwohner. Verluste mussten auch die Großsiedlungsbezirke Hellersdorf (27,1) sowie Hohenschönhausen (23,6) hinnehmen. Damit sind diese Bezirke durchaus mit den Regionen in Ostdeutschland vergleichbar, die Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in seinem umstrittenen Papier als auf der Kippe stehend beschrieben hat.

Das trifft aber nicht nur auf die Großsiedlungen im Ostteil der Stadt zu, sondern auch auf die innerstädtischen Gründerzeitquartiere. Mit 26,5 pro 1.000 Einwohner war der Bevölkerungsverlust in Friedrichshain im vergangenen Jahr besonders groß. Den nominell größten Bevölkerungsverlust der vergangenen fünf Jahre hat dagegen Prenzlauer Berg erlebt. Hier sank die Bevölkerung von 148.241 im Januar 1994 auf 134.690 im Dezember 1999. Eine ähnliche Entwicklung ist auch in Lichtenberg, Kreuzberg und abgeschwächter in Wedding und Schöneberg zu beobachten.

Angesichts dieser Herausbildung von Wachstums- und Verlustregionen in Berlin warnte der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann vor einer weiteren Verschlechterung vor allem am Ostberliner Stadtrand. Neben dem anhaltenden Wegzug vieler Familien würden sich die sozialen Probleme zunehmend auf die Plattenbauten konzentrieren.

Zwar hat der Senat in der Vergangenheit betont, der Abwanderung durch verstärkten Wohnungsbau in der Innenstadt begegnen zu wollen. Die Wirklichkeit sieht allerdings anders aus. Mit Wohnungspreisen von 8.000 bis 12.000 Mark pro Quadratmeter am Friedrichswerder wird sich die Ungleichheit der Berliner Bevölkerungsentwicklung nicht aufhalten lassen, sondern sogar noch verschärfen.