Vote for Tanztheater

■ Beim Nürnberg Ballett ist jede Aufführung eine Premiere. Denn das Publikum entscheidet über die Choreographie mit. So war's jetzt in Oldenburg zu sehen

Sie wollte die bestehende Ordnung durchbrechen, ihr Leben war ein Freiheitskampf. Emma Goldmann, russische Jüdin, Feministin, Anarchistin wurde dafür in den USA verfolgt. Daniela Kurz hat mit „Emma Goldmanns Hochzeit 1-10“ einen Stoff gefunden, mit dessen Themen und Thesen sie offenbar auch persönlich zu tun hat. Denn die Direktorin des Nürnberg Balletts rüttelt selbst an starren Ordnungen, im Tanz natürlich, und da bezieht sie die Erwartungshaltungen des Publikums mit ein.

Zu Beginn des Gastspiels, das Daniela Kurz und das Nürnberg Ballett jetzt im Oldenburgischen Staatstheater gaben, wird das Publikum per Flugblatt eingeladen, Münzen in verschiedene Dosen zu werfen, denen Titel beigegeben sind. Diese Titel stehen für bestimmte Stücksequenzen, die – wenn sie die meisten Münzen erhalten – zur Improvisation freigegeben werden. So gesehen ist dann jede Aufführung eine Premiere, denn die Struktur des Stückes verändert sich, die jungen TänzerInnen müssen jedes Mal neu auf eine veränderte Situation reagieren. Und das können sie bravourös. Denn in dieser Anarchie lässt Daniela Kurz den Tänzerinnen und Tänzern viel Raum, eine persönliche Bewegungssprache zu finden.

Tatsächlich begegnet man hier Individuen, die sich auch mit kleinen Verzögerungen und Brechungen ein ums andere Mal dem Diktat des Synchronen entziehen. Hier wird kommuniziert. Vor einem riesigen, schwarzen Tuch, das quer von der Decke hängt, tanzen junge Menschen gebückt zu einer beschwingten Muzette – wie Eisschnellläufer auf dem Weg ins Nichts, ins Immergleiche. Eine quirlige, Farben sprühende Frau bricht den Trübsal, Klezmer beschwingt die Szene, und plötzlich rennen alle mit Büchern rum, lesen, werfen sich die Werke zu, betten auf der Theorie ihren Kopf zum Schlaf.

Mit so konkreten, illustrierenden Requisiten umzugehen, macht den Tanz verlegen, und auch der Slapstick zur munteren Musik lässt allzu oft an Westside-Story denken. Da kommt ein schlaksiges weibliches Wesen, nickelbebrillt; Emma als kleines Mädchen, ein gehänselter Clown.

Eine chronologische Zeitstruktur gibt es nicht, rhapsodisch arbeiten sich Verweise ineinander. Emma wird also nicht nur als die intellektuelle, starke Frau gezeichnet, die Jessica Billeter verkörpert, sondern zugleich in ihrer Geschichte und ihren Ideen vom Bewegungsganzen.

Körper werden zum percussiven Instrument, zu ständigem – und irgendwann nervendem – Klezmer brechen Flamencoelemente ein, und auch ungarische Tänze klingen an. Auf dieser Hochzeitsfete regiert die pure Lebenslust, ein wahrer anarchischer Selbstverwirklichungsdrang im Tanz. Das ist rasant und funktioniert ein bisschen zu gut, denn der offensichtliche Spaß an dieser Lust macht das Ganze dann auch etwas unüberschaubar und letztlich langatmig.

Feiner rausgearbeitet sind dagegen die Begegnungen, etwa Jessica Billeters und Ivo Bärtschs, die als Emma und ihr Gefährte Alexander Berkmann das Gespinst aus erotischer Anziehung und Freiheitsdrang sehr bildhaft ausloten. Die totale Gleichwertigkeit von Mann und Frau, für die Emma Goldmann sich eingesetzt und die sie gelebt hat, verzichtet im Tanz auf jedwede Rollenzuschreibung, das heißt: Fans schöner Hebefiguren kommen hier garantiert zu kurz. Dafür gibt es bemerkenswerte TänzerInnenpersönlichkeiten zu genießen.

Doch als am Ende die Maschinengewehrsalven die Anarchisten versprengen und der lustige Klezmer bricht, zeigt die Choreographie den Paartanz nur noch als Kampf um Dominanz und Selbstbehauptung. Die konkrete Utopie ist tot, der ganze Schlamassel mit den Männern und den Frauen geht so weiter, und als Letztes rauscht hier nur noch die Klospülung.

Marijke Gerwin