Das kollektive Schweigen

Über Unterschiede zwischen Ost und West darf man als Politiker nicht reden. Gegen diese Grundregel hat Bundestagspräsident Thierse verstoßen. Die harsche Kritik aus Berlin verwundert nicht: Schließlich ist der Osten hier längst kein Thema mehr

von RALPH BOLLMANN

Heute wird sich Wolfgang Thierse gehörig rechtfertigen müssen. Zum ersten Mal nach den Feiertagen tritt der Bundestagspräsident an die Öffentlichkeit – eigentlich, um das von ihm herausgegebene Buch „Zehn Jahre Deutsche Einheit“ vorzustellen. Doch für den Schmöker wird sich kaum jemand interessieren. Schließlich hat Thierse zu dem Thema weit Gewichtigeres gesagt: Für seine schlichte Feststellung, die soziale Lage in Ostdeutschland stehe „auf der Kippe“, bezieht der SPD-Politiker derzeit verbale Prügel aus allen politischen Richtungen.

Besonders harsche Worte fand Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU). Thierses Thesen seien „unverantwortlich“, befand der Rathauschef. Wer die Situation so schwarz male wie Thierse, habe die Entwicklung der vergangenen Jahre nicht zur Kenntnis genommen. So liege in der Hauptstadt der Ost-Bezirk Hellersdorf beim Pro-Kopf-Einkommen auf dem zweiten Platz, gleich nach dem westlichen Nobelbezirk Zehlendorf. Auch Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) befand, das Thierse-Papier sei „wenig hilfreich“.

Keine Frage: Als Ministerpräsidenten von Ost-Ländern müssen Diepgen und Stolpe die Thesen des Parlamentspräsidenten zwangsläufig als Attacke auf die eigene Politik verstehen – da geht es ihnen nicht anders als den Regierenden im Bund, die über den Angriff aus den eigenen Reihen nur den Kopf schütteln konnten. Doch selbst die jeweiligen Oppositionsparteien reagierten auf die Steilvorlage merkwürdig verhalten.

Auch im Jahr 11 der Einheit gilt es unter Politikern – vor allem aus dem Westen – noch immer als unschicklich, die Probleme beim Zusammenwachsen von Ost und West offen zu thematisieren. Wer Klartext redet, so der Tenor, schadet dem Image der neuen Länder; wer über Schwierigkeiten spricht, beleidigt die Ostdeutschen.

Dass man über die Unterschiede zwischen Ost und West nicht reden darf, ist jedoch nur ein Teil des Problems. Wer sich über die Probleme ausschweigt, der zementiert die Teilung: Das gilt auch und gerade für Berlin, wo das kollektive Schweigen dafür sorgt, dass der Westen den Osten gar nicht mehr wahrzunehmen braucht. So kommen die 28 Bürgermeister, Senatoren und Staatssekretäre allesamt aus dem Westen – mit der einzigen Ausnahme der allseits belächelten SPD-Quotenfrau Gabriele Schöttler. Die Frage nach Ost und West sei eben „kein Thema mehr“, rechtfertigen sich die Koalitionspartner CDU und SPD. Es sollte besser heißen: Der Osten ist kein Thema mehr.

„Osten“: Das ist für die meisten Westberliner ohnehin nur die Friedrichstraße, der Hackesche Markt und der Kollwitzplatz. Weil dort das Leben tobt, halten sie den Aufbau Ost für abgehakt. Ihnen sprach Diepgen aus dem Herzen, als er zu Weihnachten erklärte, das Prinzip „Aufbau Ost vor Ausbau West“ sei künftig „nicht mehr die Grundbedingung für Berliner Politik“.

Auf den ersten Blick scheinen die Zahlen dem Bürgermeister Recht zu geben. Die drei Berliner Bezirke mit der höchsten Arbeitslosenquote – Kreuzberg, Wedding und Neukölln – liegen allesamt im Westen. Doch die niedrige Arbeitslosigkeit im Osten ist keineswegs ein Beleg für den wirtschaftlichen Aufschwung. Die meisten Arbeitsplätze gibt es nach wie vor im Westen. Wenn es dem Osten schlecht geht, ist das also nicht zwangsläufig ein individuelles Problem der Ostler selbst – sie suchen sich schließlich anderswo einen Job.

In Berlin müssen sie, anders als im übrigen Osten, dafür nicht einmal umziehen. Die Entvölkerung ganzer Landstriche steht also vorerst nicht zu befürchten, wohl aber der schleichende Niedergang der östlichen Außenbezirke. Vor allem aber kann von „Zusammenwachsen“ keine Rede sein, wenn der eigentliche Osten jenseits des Regierungsviertels zur bloßen Schlafstadt verkommt. Leute, die sich dort noch engagieren wollen, werden sich dort immer seltener finden lassen – hat sich der Lebensmittelpunkt erst einmal Richtung Westen verlagert, führt selten ein Weg zurück.

Auch beim Thema Rechtsextremismus hilft das Gerede, es handele sich um ein gesamtdeutsches Phänomen, nicht weiter. Schließlich ist der westeuropäische Wohlstandschauvinismus mit der Radikalität in den entwurzelten Übergangsgesellschaften Osteuropas kaum zu vergleichen – und erst recht nicht mit den gleichen Mitteln zu therapieren.

Auch in dieser Frage hatte sich Thierse als erster hervorgewagt – und damit im vorigen Sommer eine gesamtdeutsche Debatte angestoßen.