Zeit, Raum und Geschichte

Der Band „Zeitschichten“ des Historikers Reinhart Koselleck bietet einige seiner wichtigen Arbeiten. Darin überschreitet er elegant und erfolgreich die Fachgrenzen

In der akademischen Geschichtswissenschaft gibt es viele Schulen und entsprechend viele Lehrer. Dass aber diese Lehrer einem der Ihren wiederum mit einem ganz besonderen Respekt verbunden sind, ist selten. Als 1989 dem Bielefelder Geschichtswissenschaftler Reinhart Koselleck in München der renommierte Preis des Historischen Kollegs übergeben wurde, bekannte der Laudator, in die Schule Kosellecks seien wir alle, direkt oder indirekt gegangen.

Insbesondere als maßgeblicher Herausgeber des in der Forschung nicht zu umgehenden großen Lexikons „Geschichtliche Grundbegriffe“ hat Koselleck sich einen weit über die Bielefelder Universität hinausreichenden Namen gemacht. Mit seinen geschichtstheoretischen Aufsätzen ist er auch international als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Historiker unumstritten.

Eine erste Sammlung seiner Texte aus den letzten drei Jahrzehnten ziert jetzt die Edition herausragender Suhrkamp-Autoren, die aus Anlass des 50-jährigen Verlagsjubiläums herausgegeben wurde. „Zeitschichten“, so der auf den ersten Blick für eine historische Studie etwas schillernde Titel des Bandes, zielt direkt auf eine zentrale These des Geschichtstheoretikers Koselleck. Mit diesem Begriff will uns der Historiker, der ein großer Liebhaber von Metaphern und Bildern ist, einen Schlüssel zum Verständnis der Zusammenhänge von Zeit, Raum und Geschichte liefern.

„Zeitschichten verweisen auf geologische Formationen, die verschieden weit und verschieden tief zurückreichen und die sich im Laufe der so genannten Erdgeschichte mit verschiedenen Geschwindigkeiten verändert und voneinander abgehoben haben.“ Übertragen auf die Geschichtswissenschaft heißt dies, dass sich in jeder Epoche, in jedem historischen Ereignis immer eine Komplexität verschiedener Zeiten „ablagert“, die der Geschichtswissenschaftler bei seiner Forschung und Thesenbildung immer im Blick haben muss.

Auf diese Schichtung verschiedener Zeiten im Ablauf der Geschichte kommt Reinhart Koselleck bei seinen Abhandlungen immer wieder zurück: in seiner Auseinandersetzung mit Utopie-Entwürfen, in seiner Untersuchung des Säkularisationsprozesses, in seinem Versuch, den Einfluss der beiden Weltkriege auf das soziale Bewusstsein zu bestimmen oder mit der ausführlichen Erörterung der Plessner-These von der „verspäteten deutschen Nation“.

Anknüpfend an die Arbeiten des französischen Historikers Fernand Braudel und des deutschen Soziologen Georg Simmel diskutiert Koselleck in einem eigenen Kapitel die Zusammenhänge von Geografie und Geschichte: „Außergeschichtliche, geografisch bedingte Vorgaben sind in den Kanon geschichtlicher Fragestellungen einzubeziehen, heute in Anbetracht der ökologischen Krise vielleicht mehr denn je.“ Diese Öffnung der Geschichtswissenschaft für neue Fragestellungen und das souveräne Überschreiten der Fachgrenzen zum Beispiel zur Literatur und Architektur, geben der Lektüre der Arbeiten von Koselleck ihren besonderen Reiz.

Hat man sich erst einmal in sie eingelesen, entdeckt man neben ihrer luziden Begrifflichkeit, immer auch ihre besondere didaktische Komposition. Man versteht, warum Koselleck von vielen jüngeren Historikern so sehr als Lehrer geschätzt wird. Selbst wenn er nur für ein Fachpublikum schreibt, spürt man dabei immer den Lehrer, der die Schüler nicht belehren, aber neugierig machen will.

Die Lektüre dieser „Zeitschichten“ macht neugierig auf die weiteren bereits angekündigten Bände mit Texten dieses bedeutenden Historikers.

CARL WILHELM MACKE

Reinhart Koselleck: „Zeitschichten.Studien zur Historik“. 399 Seiten,Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000, 48 DM.