Liebenswerte Fratze

Europa kann ein langweiliges Thema sein. Nicht so bei Dirk Schümer: Ihm ist es gelungen, darüber ein überraschend spannendes Buch zu schreiben

von CARSTEN SCHYMIK

Europa ist kompliziert und langweilig. Der EU-Gipfel in Nizza hat dies jüngst wieder bewiesen. Politische Sachbücher über Europa dagegen können spannend sein. Dies beweist Dirk Schümer, Europa-Korrespondent der FAZ, der jenseits von langatmiger Verhandlungsdiplomatie und unverständlicher Vertragslyrik auf knapp 300 lesenswerten Seiten „Das Gesicht Europas“ porträtiert. Schümer gelingt eine erdnahe und tabulose Gegenwartsanalyse des zusammenwachsenden Kontinents. Allein das Fazit überrascht ein wenig. Denn Schümer zeichnet ein Bild Europas, das alles andere als attraktiv wirkt – und findet daran am Ende Gefallen: Europa – eine liebenswerte Fratze.

Das Buch lädt den Leser ein auf eine historisch-politische Reise zu den symbolischen Orten der europäischen Einigung. Es beginnt in Sarajewo, Brennpunkt des ersten und des letzten großen Krieges im 20. Jahrhundert und damit zugleich die eigentliche Geburtsstätte der modernen Idee des vereinten Europas. Von hier aus geht es kreuz und quer durch den Kontinent: von Kreta, Europas mythologischem Ausgangspunkt, nach Auschwitz, seinem humanistischen Nullpunkt, weiter über Aachen, seinem neuen geschichtsideologischen Fixpunkt, bis hin zu den heutigen Machtzentren der EU in Brüssel, Straßburg und Frankfurt.

Das Gesicht Europas entsteht unterwegs. An jeder Reisestation vertieft Schümer in essayistischer Form historische Bürden und aktuelle Probleme. So entsteht Stück für Stück ein Bild von der gegenwärtigen, durchaus kritischen Verfassung Europas. Ja, es erscheint uns vor allem als ein Produkt von Gewalterfahrung. Schon der griechischen Sage nach Sprösslinge einer göttlichen Vergewaltigung, wurden die Europäer auch nach 1945 maßgeblich von der Furcht vor einer Wiederholung von Krieg und Völkermord zu einem Neuanfang motiviert. Hervorgegangen ist daraus die Europäische Union, die „institutionalisierte Unordnung“, wie Schümer sie bezeichnet. Die Brüsseler Verwaltungszentrale charakterisiert er als „fröhlichen Sumpf der Bürokraten“, das Straßburger Europaparlament als babylonisches Raumschiff. Am EU-Gerichtshof in Luxemburg werde „gleiches Recht“ gesprochen, aber eben nur „für fast alle“. Und Frankfurt, Sitz der Europäischen Zentralbank, verkörpert die „kreative Zerstörungskraft des Geldes“.

Folgen wir Schümers Reisebericht weiter, werden uns neben historischen Narben und institutionellen Geschwülsten weitere Makel im europäischen Antlitz vor Augen geführt: Das Aosta-Tal in den italienischen Alpen veranschaulicht den bevorstehenden Verkehrskollaps im expandierenden Binnenmarkt, das luxemburgische Schengen symbolisiert das „höllische Einwandererparadies“ der Festung Europa, die Europol-Zentrale im niederländischen Den Haag einen „machtlosen Tiger“ im Kampf gegen das internationale Verbrechen. Die Lesereise endet schließlich im verlassenen Tal von Thingvellir, der Geburtsstätte der isländischen Demokratie. Dort – weitab der EU – entdeckt Schümer jenen Ort, der ihm am besten für ein Nachdenken über die demokratische Zukunft Europas geeignet erscheint.

Auf den ersten 295 Seiten geht Schümer mit der EU hart ins Gericht. Obwohl das Buch dabei viel Stoff für EU-Kritiker liefert, bedient es erfreulicherweise keine platten Vorurteile über den viel gescholtenen Brüsseler „Superstaat“. Auf den letzten fünf Seiten macht Schümer indes eine unvermutete Kehrtwende. Die bis dahin schonungslose Darstellung von Systemfehlern und Zerstörungskräften in der EU mündet in das Hohelied auf die Einheit durch Vielfalt. Die Kritik am Demokratiedefizit etwa führt ihn zunächst zur Forderung nach voller Parlamentarisierung der EU, später jedoch zu der milden Erkenntnis, dass die Europäer mit ihren demokratisch mangelhaften Institutionen bisher passabel gefahren sind und Europa zu einem Menschenbild passe, das den alten Untertan verabschiedet hat. Die fehlende Einwanderungspolitik der EU leistet nach Schümers Analyse dem organisierten Menschenhandel Vorschub, dann aber weicht sie der allgemeinen Einschätzung, dass sich die zersplitterte Wirklichkeit Europas nicht per Verordnung lösen lassen wird. Es scheint, als sei der Autor im Schlusskapitel selbst von der offenkundigen Widersprüchlichkeit Europas überwältigt worden. Den Gesamteindruck eines hintergründigen und stilistisch glänzenden Beitrags zum Stand der europäischen Dinge schmälert dies jedoch nicht.

Dirk Schümer: „Das Gesicht Europas. Ein Kontinent wächst zusammen“.Hoffmann und Campe, Hamburg 2000, 304 Seiten, 39,90 DM