Fremde unter sich

Gram in der Wüste, vom Winde verweht: In Olaf Müllers Roman „Tintenpalast“ schrumpfen die Schicksale zu Kieselsteinen. Auch sonst gibt es viele kryptische Metaphern und schräge Bilder

von GERRIT BARTELS

„Tintenpalast“ heißt im Volksmund der Regierungspalast in Windhoek, der Hauptstadt von Namibia. „Tintenpalast“ nennt in Olaf Müllers gleichnamigem Roman auch der DDR-Bürger und Stasi-Spitzel Henry Magdaleni seine Aufzeichnungen. Diese sind für ihn das Gegenmodell zum eigenen, verkorksten Leben, ein Ort, „an dem er sich verfremden, verkleiden darf, bevor irgendwann Grund genug sein würde auszubrechen“.

Den besten Grund auszubrechen hat Henry dann nach dem Fall der Mauer. Schleunigst macht er sich über Paris auf den Weg nach Namibia, um dort „um Einlass“ in den Tintenpalast zu bitten. Und um dort, ja, wir können es uns auf den ersten Seiten schon denken, sich von seiner Schuld reinzuwaschen, seine Vergangenheit loszuwerden, sich endgültig aufzulösen und zu Schrift und Literatur zu werden – zumindest zu einem der beiden Romanhelden des 1962 in Leipzig geborenen und in Berlin lebenden Schriftstellers Olaf Müller.

Doch so einfach ist das alles nicht: Denn Henry auf den Fersen ist sein Landsmann Simon Sange, der von Henry zum ungewollten, aber bezahlten Mitwisser seiner Stasitätigkeit gemacht wurde. Simon erhält einen Auftrag von einer alten Frau, die ihm einen Umschlag zusteckt und ihm zuraunt: „Henry Magdaleni muss es erfahren.“

Was genau, bleibt für den Leser wie so vieles lange Zeit im Unklaren, es geht um den Tod einer Henry einmal nahe stehenden, von ihm aber bespitzelten und verratenen Person. Noch schwerer aber lässt es sich während der gesamten Lektüre ermitteln, warum die Biografien von Simon und Henry auf so schwerwiegende Art miteinander verbunden sind, warum Simon nun wirklich Henry nach Namibia folgt. Seine Motive scheinen sich aus den unterschiedlichsten Quellen zu speisen: Nicht nur, dass Simon auch nicht mehr so viel anzufangen weiß in Deutschland; nachdem er von seiner großen Liebe Wera verlassen wurde, war er seinerzeit auch höchst fasziniert von Henry und genau wie dieser ein Drop-out in der DDR, ein Asozialer. Vielleicht waren sie Freunde, Seelenverwandte gar, vielleicht auch nicht, vielleicht hat Henry Berichte über Simon angefertigt, vielleicht auch nicht, vielleicht aber hat er sie auch geschönt oder gefälscht, um Simon nicht zu schaden. Man weiß das alles nicht so ganz genau.

Olaf Müller ergeht sich in seinem Roman viel und gern in dunklen, kryptischen, rätselhaften Andeutungen, reißt hier was an, löst dort nur unzusammenhängend auf, spielt mit postmodernen Unklarheiten und Doppeldeutigkeiten (da bleiben selbstverständlich auch die Sätze stehen, die Henry in seinen Tintenpalast-Aufzeichnungen durchstreicht) und lässt andere, berühmte literarische Figuren Modell für Henry und Simon stehen: Elmar Gantry (Sinclair Lewis), der Fremde (Albert Camus), Cambert (Wolfgang Hilbig), Schott (Hans-Joachim Schädlich).

So geht es vor und zurück. Die ostdeutsche Kleinstadt Blubars 1979 und 1989, Ostberlin 1984 und 1989, die unerfüllten Lieben, das miese Leben. Dann wieder die Reise und die Flucht durch ein fremdes Land im Jahr 1992: Henry wandert von Omaruru nach Tsaobis, von Outjo nach Swakopmund, arbeitet, trinkt, denkt und schreibt in sein Lebensbuch: „Gram wird in die Wüste geweht, verliert sich unter den Aberbillionen fremder, zu Kieseln geschrumpfter Schicksale.“ Oder: „Ich laufe los, weil ich weg will von dort, wo ich jedesmal wieder ankomme.“

Immer hinterher Simon, mit einem Ford, einer Flasche oder einer Frau, voller Gram – der weht bei ihm nicht einfach in die Wüste –, aber auch mit viel Zweifeln an dem Sinn seines Unterfangens, Henry zu finden und zu stellen.

In der Wüste Namib schließlich kommt es zu einem missglückten Showdown zwischen den beiden: Simon und Henry, the good, the bad and the ugly, ein Wortwechsel, mehrere Schüsse. Dann zieht ein Wüstensturm auf und einmal mehr wird alles vom Winde verweht: Schuld und Sühne, Verrat und Verlust, Stasi und Stasi, der deutsche Vorwenderoman, der deutsche Nachwenderoman.

Was dann allerdings nicht mehr so viel ausmacht, denn vor lauter knarzenden Metaphern und ächzenden Allegorien, vor lauter Hitze und Wind, Sand und Wüste, Sex und Suff, vor lauter überflüssigen, aber gleichfalls schwer getriebenen Nebenfiguren, vor lauter Existenzialismus und Bedeutungshuberei hat man an dieser Stelle die an sich interessante Geschichte von Henry und Simon leider schon lange aus Augen und Sinn verloren.

Immerhin gibt’s noch eine Überraschung: Henry wirft seinen „Tintenpalast“ in ein trockenes Flussbett und sitzt danach gelassen und mit einer „geradezu satanischen Heiterkeit“ in einem Lastwagen. Da scheint zumindest einer der beiden Erlösungsversuche doch nicht ganz in die Hose gegangen zu sein, da hat Olaf Müller tatsächlich noch dem Leben den Vorzug vor der Literatur gegeben.

Olaf Müller: „Tintenpalast“. Berlin Verlag, Berlin 2000, 332 Seiten, 39,80 DM