Berlins Mitte-Boheme lebt von geerbten Aktien

Family Values

Wer sich schon immer fragte, wo eigentlich das ganze Geld herkommt, das nachts in den Bars von Berlins Mitte aus dem Fenster geworfen wird, der konnte in den vergangenen Wochen erstaunliche Entdeckungen machen. All die Agenturen, Galerien, Büros, Online-Arbeitsgemeinschaften oder sonstwie der Szene-Ökonomie zuzurechnenden Institutionen scheinen nur Tarnfirmen gewesen zu sein, um die wirkliche Herkunft dieser Gelder zu verschleiern. Gut die Hälfte all derjenigen, mit denen man nachts über die jüngere Vergangenheit, die Gegenwart und die nähere Zukunft disputiert, sind nämlich Erben. Sie besitzen irgendwelche Aktien, Fonds oder Immobilien, die sie von Eltern oder Großeltern bekommen haben, und die werfen monatlich Geld ab.

Nicht, dass man aus diesem Umstand direkte Schlussfolgerungen ziehen könnte – aber pauschal jeden Zusammenhang abzustreiten, wäre genauso unvorsichtig, zumal man im Moment ja auch Ansätze zur Pauperisierung von Berlins Mitte-Boheme feststellen kann. Der Absturz der Kurse am neuen Markt ist noch lange nicht zu Ende, und während die Eltern das Geld in sichere Anlagen investiert hatten, schichteten nicht wenige derjenigen, die sich nachts über Deleuze, Netzaktivismus oder die Verschränkung von Ausbeutung und Selbstbestimmung ihre Gedanken machten, tagsüber ihr Geld in irgendwelche New-Economy-Aktien um.

Das hat nun Konsequenzen. Etwa für A. Die ganzen Neunziger hat er in Berlin zugebracht. Im Westen der Stadt ist er erst zur Uni gegangen und hat dort Architektur studiert. Nun ist er fertig, wohnt in Mitte, und wenn Besuch von außerhalb kommt, hält A. große Vorträge darüber, was vor wenigen Jahren noch alles möglich war und nun nicht mehr.

Tatsächlich scheint sich sein finanzieller Spielraum in den vergangenen Wochen deutlich eingeengt zu haben. Bisher lebte A. davon, eines dieser Büros zu betreiben, die irgendwo an der Schnittstelle zwischen Kunst und Architektur ominöse Projekte anschieben, die irgendwie mit Computern und virtuellen Räumen zu tun haben. Projekte, deren Ergebnisse in Galerien ausgestellt werden, wo dann all die anderen hinkommen, die Ähnliches machen, um sich über New York zu unterhalten. Natürlich lebte er davon nicht wirklich, das Büro war Beispiel für eine dieser Tarnfirmen. Sein Geld kam daher, dass er seinen Teil an der Erbschaft, die der Familie nach dem Tod seines Großvaters zufiel, am neuen Markt in Aktien investiert hatte. Sein Büro betrieb er eigentlich nur, um seiner Existenz als Rentier einen Sinn zu geben.

Nun hat sich aber sein Kapitalbestand innerhalb weniger Wochen um zwei Drittel reduziert, und das Haus, in dem sein Arbeitsraum ist, wird saniert – kurz, er musste vor einigen Wochen ausziehen. Dass er den Investoren, die hier lauter Büroflächen für Neue-Medien-Firmen hineinsetzen wollen und die Planung vor bald drei Jahren gemacht haben, jetzt schon prognostizieren kann, dass diese Firmen niemals kommen werden – „der ganze Mist geht doch den Bach runter“ –, ist nur ein schwacher Trost.

Vielen geht es so. Die ganzen letzten Jahre haben sie sich mit Simulation und Realität beschäftigt, mit Identitätspolitik und dass damit irgendwas nicht stimmt. Das war alles ziemlich kritisch und gleichzeitig doch zukunftsweisend. Bestimmte Legitimierungskämpfe gegen die Eltern mussten sie dabei nicht länger führen: Dem Argument, das man eben etwas mache, was mit dem Internet zu tun habe, wussten die Alten nichts mehr entgegenzusetzen. Und nun ist auf einmal die Simulation geplatzt, die Realität hat einen eingeholt, man ist auf die Identität dessen reduziert, der kein Geld mehr hat.

Es gibt aber auch Ausnahmen – etwa S. Er hat ebenfalls eine klassische Karriere im Berlin der Neunziger hinter sich: Vom Hausbesetzer zum Architekturstudenten zum Technomusiker zum Fahrradkurier zum Gelegenheitsromancier. Als das Adventurekapital seiner Eltern verbraucht war, wurde er Onlineredakteur. Glücklicherweise ist sein Arbeitgeber noch echte Old Economy – deshalb muss S. auch keine Entlassung befürchten.

Nun wollte selbst S. vor einem Jahr sein ganzes Geld in irgendwelche todsicheren Tipps stecken, die er im Netz entdeckt hatte. Vergangenes Frühjahr hieß es, „die gehen bald an die Börse, Mann, das wird in die Höhe schießen wie nichts“. Dann setzte S. sein bescheidenes Vermögen aber doch in Jägermeister und synthetische Rauschdrogen um. Jetzt freut er sich darüber. „Ein Glück. So habe ich das Geld wenigstens sinnvoll investiert. War doch eigentlich eh klar. Im Internet wird ja auch kein Mehrwert hergestellt, sondern immer nur Geld hin und her geschichtet, und das hat dann noch mehr Geld angezogen. Viel besser ist es doch jetzt. Jetzt kauf ich mir Aktien von Firmen, die diese Dinger herstellen, mit denen man DNA zerschnippeln kann. Und die steigen bestimmt.“

TOBIAS RAPP