Architektur und Familienbanden

Der Film Kenwin lässt ein Beziehungsgeflecht der 20er Jahre auferstehen  ■ Von Doro Wiese

Bei Büchner ist die „Kunst, ach die Kunst“ ein Bretterboden, der die Löcher in der Erde mühselig überdeckt. Die Kunst, ach, sie lässt für das Theater des Lebens wenig Platz, weil sie die Ohren und Augen für die Wirklichkeit verstopft. Neben der armseligen Kreatur Mensch stehend ist sie der Affe in Rock und Hose: eine repräsentative Kunst, nachäffend im Herrschaftskleid. Aber, ach, trotzdem ... gibt und gab es viele Aufbrüche, mit denen Kunst und Leben in ein neues Verhältnis gesetzt werden sollten. Viele von ihnen sind dem kollektiven Gedächtnis entfallen; insbesondere jene Experimente, die der Nationalsozialismus gewaltsam unterbrach. Die Kunst, ach, die Kunst wäre es dann, sich an solche Lebensversuche erinnern zu können und die hinterlassenen Zeichen neu zu deuten. Gelegenheiten und Anlässe dazu gibt es genug; getan hat es beispielsweise Véronique Goäl 1996 mit ihrem Film Kenwin.

Strenggenommen ist es ein ganzes Geflecht an Spuren, die Goäl in Kenwin zu Tage treten lässt und die in der Struktur des Films nie zueinander finden können. Denn Goäl lässt Ton und Bild, Vergangenheit und Gegenwart auseinanderdriften. Gehört werden kann ein Briefwechsel, der zwischen den 20er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts von einer Vielfalt von Orten aus geführt wurde; das Bild aber ist größtenteils auf eine Behausung beschränkt, die für die Liebes-, Lebens-, Arbeitsverhältnisse der Briefwechselnden einen Raum schaffen sollte.

Und dieser Ort – das Haus Kenwin, welches in mühevoller Kleinarbeit erst Mitte der 80er Jahre restauriert wurde – bietet zwar den ZuschauerInnen einen Raum zum Verweilen an, kann jedoch keinesfalls mit dem Gehörten in Gleichklang gebracht werden. Schon die Eingangsdaten der Briefe verweisen auf die kosmopolitische Orientierung ihrer SchreiberInnen, der Lyrikerin H. D., der Schriftstellerin Winifred Ellerman, dem Filmemacher Kenneth MacPherson und dem Drehbuchautoren Robert Herring: In Paris, Berlin oder London verfasst, in kleineren europäischen Städten zu den Briefkästen getragen, sprechen sie immer aus einer Ferne miteinander. Der gemeinsame, geteilte Mittelpunkt ist vielmehr ideeller als praktischer Natur und besteht aus einem Bündnis im Tonfall. Schließlich spricht sich durchgehend in den Briefen eine große Zuneigung, ein Interesse aneinander und ein respektvoller Umgang aus. Dabei nähern sich die Mitteilenden so vollständig aneinander an, dass die Unterschiede zwischen ihnen verwischen und von den ZuschauerInnen nur entlang von Details rekonstruiert werden können.

Das Haus Kenwin mag ein Versuch gewesen sein, diesen gemeinsamen, unteilbaren Schriftort in den materiellen Träger eines Beziehungsgeflechts zu übersetzen. Die wenigen Momente, die anhand von Archivmaterial von der Umsetzung dieses Experiments zeugen, bleiben dabei aber so rätselhaft, dass auch sie einer umfassenderen Übersetzung bedürfen. Hierfür greift Goäl zu zwei verschiedenen Verfahren. Zum einen werden immer wieder Sequenzen in den Film eingestreut, welche die derzeitige Nutzung des Hauses bebildern. Dadurch entsteht ein Eindruck davon, welche Möglichkeiten der Separation und Gemeinsamkeit in den Räumen angelegt wurden und in welches Kommunikationsverhältnis das Haus wiederum mit seiner Umgebung tritt. Eine nahezu „ins Haus geholte“ Natur eröffnet sich hier dem Blick vom Inneren aus, dessen großräumige Architektur wiederum der Geselligkeit viel Auslauf lässt. Von Außen wirkt das Haus jedoch vielmehr wie ein Fremdkörper, dessen Künstlichkeit sich der Natur nicht eingliedert, sondern nur neben und ganz daneben stehen kann.

Des weiteren wird dem Briefwechsel aber noch eine andere, sich erinnernde Stimme – die von H.D.s Tochter Perdita – hinzugefügt, die Einblick in das Beziehungsgefüge der BriefschreiberInnen erlaubt. Da diese sich nicht an dem Briefwechsel beteiligt, erlaubt sie einen Blick von außen und lässt allmählich ein wechselseitiges, sich dauerhaft entgrenzendes Experiment entstehen.

Dieses Experiment umfasst zum einen ein familiales Bündnis, das sich über Tradition in jeglichem Sinn hinwegsetzt: Da lieben sich Frauen und Frauen und Männer und Männer und Frauen, finden Stile über die Geschlechterkonventionen hinweg und bilden alternative Familienbanden. Weiterhin entgrenzen sich aber auch die künstlerischen Tätigkeiten der Beteiligten zueinander hin; was die eine schreibt, wird zum Bild des nächs-ten, wird zur Schrift der weiteren. Und an diesem Ort, der eine gemeinsame Durchdringung eines Liebes- und Kunstverhältnisses ist, ist, ach, vielleicht eine Lebenskunst möglich gewesen.

Fr, 19 Uhr, Metropolis; im Anschluss (21.15 Uhr) läuft Borderlinevon McPherson, ein früher Versuch über Rassismus