Nonstop Video auf dem Sozialamt

Das Neuköllner Sozialamt wird seit Jahresbeginn videoüberwacht. Vorher klagten Mitarbeiter über zahlreiche Übergriffe von Besuchern. Nun klagt der Personalrat gegen die „datenschutzrechtlich bedenkliche Maßnahme“. CDU-Stadtrat freut sich über die neue Ruhe in den Gängen

von WIBKE BERGEMANN

Es ist immer das gleiche beklemmende Gefühl, das einen beim Betreten von Ämtern befällt. Arbeitsamt, Einwohnermeldeamt, Sozialamt – wer hier eintritt, liefert sich hilflos einer undurchschaubaren Maschinerie aus: Ein Labyrinth von langen Gängen, eine Unzahl von Türen, deren Nummerierung einer geheimnisvollen Logik folgt. Und dahinter unberechenbare, gnadenlose Sachbearbeiter.

Die Beklemmung lässt sich noch steigern. Das Neuköllner Sozialamt hat zu Jahresbeginn Videokameras installiert, die während der Sprechzeiten alles filmen, was vor den Sprechzimmern passiert. „Ich will doch nur, dass wieder mehr Menschlichkeit hier einzieht“, verteidigt der für Personalfragen zuständige Bezirksstadtrat Michael Freiberg (CDU) die Videoüberwachung. Er hat die 19 Kameras für 200.000 Mark anbringen lassen. Seither erntet er viel Kritik. „Dabei gibt es die Kameras doch nur in zwei Fluren“, beschwichtigt Freiberg.

Dass die Wahl auf diese beiden Gänge fiel, ist kein Zufall: Hier drängen sich die Wartenden vor den Türen. Eine Frau belagert seit zwei Stunden die Tür ihres Sachbearbeiters. Sie weicht keinen Schritt von ihrem Platz und hofft, dass sie dadurch schneller drinnen ist. „Hier geht es nämlich nicht nach der Reihe“, schimpft sie. Die junge Frau neben ihr hat einen Termin und wartet trotzdem schon seit einer Stunde. Langsam wird sie ungeduldig: „Wenn man nachfragt, werden sie patzig und schreien einen an: Raus! Von Höflichkeit kann da keine Rede sein.“

Die Stimmung ist geladen im Neuköllner Sozialamt, das mit mehr als 40.000 Sozialhilfeempfängern eines der größten in Deutschland ist. Immer häufiger kam es zu Übergriffen von Besuchern gegen die Mitarbeiter, 120 hat der Stadtrat in den vergangenen zwei Jahren gezählt. Die Angriffe reichen von Beschimpfungen bis zu Handgreiflichkeiten. Ein Mitarbeiter wurde im Fahrstuhl zusammengeschlagen.

Häufig seien die verbalen Übergriffe noch schlimmer als die körperlichen, glaubt der seit drei Monaten eingesetzte Gewaltbeauftragte Bernd Haensche. Mitarbeiter würden bedroht: „Wir wissen, wo du wohnst! Schau dir deine Kinder noch einmal genau an!“ Frauen litten oft unter sexuellen Pöbeleien.

„Das hat sich zu einer Normalität entwickelt, sodass man auch zu drastischeren Maßnahmen greifen muss“, glaubt Freiberg. Er erhofft sich von den Videokameras vor allem eine präventive Wirkung. Schließlich gibt es keinen Kontrollraum, indem die Flure über Monitore bewacht werden. Die Kameras filmen während der Öffnungszeiten von 7:30 bis 14 Uhr. „Die gespeicherten Aufnahmen werden jeden Tag um 15 Uhr automatisch wieder gelöscht“, versichert Freiberg. Nur wenn Mitarbeiter einen Vorfall melden, wird das Material zusammen mit Vertretern des Personalrats gesichtet.

Dennoch hält Marga Richter-Beier, Vorsitzende des Personalrats, die Videoüberwachung „datenschutzrechtlich für sehr bedenklich.“ Die Maßnahme zum Schutz der Angestellten stößt bei den Betroffenen auf geteilte Meinungen. Während Freiberg von einer positiven Resonanz spricht, klagt der Personalrat inzwischen vor dem Verwaltungsgericht. Denn mit den Kameras ließen sich Mitarbeiter bei der Arbeit kontrollieren, meint Richter-Beier. Statt Videoüberwachung fordert der Personalrat, dass mehr Personal eingestellt wird. Zudem müsse sich die „katastrophale“ Raumsituation im Sozialamt ändern, so Richter-Beier. Außerdem schlägt sie vor, nur noch mit vereinbarten Terminen zu arbeiten. Ein paar Türen weiter haben Mitarbeiter bereits diese Bestellpraxis eingeführt. Doch eine einheitliche Handhabung gibt es nicht.

Im zweiten Stock muss man Wartemarken ziehen. Die gehen bereits um 11 Uhr aus. Ein Frau, die zu spät kommt, flucht, blickt hektisch auf ihre Uhr und flucht wieder. Die anderen Besucher, die in dem dunklen Gang warten, beachten sie kaum.

Tatsächlich scheint dem Chaos auf den Gängen auch ein Chaos hinter den Türen zu entsprechen. Ein junges Paar, das seit Wochen versucht, Erziehungsgeld zu beantragen, wird wieder auf einen neuen Termin vertröstet: „Wir sind noch immer nicht im Computer. Wenn wir kommen, sprechen wir mit der Vertretung der Vertretung.“

Der Gewaltbeauftragte Haensche berichtet, dass die Arbeit im Sozialamt eine enorme psychische Belastung bedeutet: „Vielen Kollegen geht es schon schlecht, wenn sie nur an das Sozialamt Neukölln denken.“ Diesen Mitarbeitern soll nun eine psychologische Betreuung angeboten werden.

Um die Situation zu entschärfen, ist jedoch vor allem eine effizientere Organisation der Arbeit nötig. Allerdings liegt die Form der Arbeitsprozesse in der Verantwortung der einzelnen Abteilungen. Freiberg verspricht: „Wir tun, was wir können.“ Doch „das Ding da unten geradezuziehen, wäre eine unvorstellbare Aufgabe“, gibt Haensche zu bedenken. Und auch Freiberg kann nicht garantieren, „dass die Mitarbeiter immer neutral mit den Kunden umgehen“.

So bleibt es vorläufig bei den erniedrigenden Bedingungen für Besucher im Sozialamt, jetzt erweitert um die Videoüberwachung. Einer der überwachten Wartebereiche befindet sich in einem Treppenhaus, auf einer Ebene im dritten Stock. Die Luft ist verraucht, die Sitzbänke sind alle in eine Richtung aufgestellt. Zwei Kameras sind direkt gegenüber frontal auf die Wartenden gerichtet. Doch keiner scheint sich daran zu stören. Auf Nachfrage hört man, dass die Kameras ihnen egal seien. Die Menschen hier scheinen andere Probleme zu haben, als sich über die Kameras aufzuregen. Völlig ignoriert werden sie aber offensichtlich nicht. Freiberg zufolge ist es bereits ruhiger geworden in den Wartebereichen.

Und vielleicht sind es auch gar nicht die Kameras, die verunsichern, als vielmehr die Schilder, die den Besucher darauf hinweisen, dass das Gebäude mit Videokameras überwacht wird. Überall hängen diese Schilder – auch dort, wo keine Überwachungskameras angebracht worden sind. Aber wer weiß das schon. Man schaut sich um, kann keine Linse entdecken und muss davon ausgehen, dass die Dinger auch noch unsichtbar sind. Freiberg grinst wissend, wenn man ihn auf diesen Effekt hinweist.