Die Welt im Körper des Filmemachers

Jeder seiner Filme war eine sehr persönliche und sehr politische Reise – ob nach Afrika, Amsterdam oder ins Wattenmeer. Mit seinem letzten Film hat sich Johan van der Keuken von der Welt verabschiedet. Zum Tode des niederländischen Filmemachers

von DETLEF KUHLBRODT

Es war seltsam, vor einem Jahr im Forumsprogramm der Berliner Filmfestspiele den Film „De grote Vakantie“ von Johan van der Keuken zu sehen. Aus dem Programmheft konnte man erfahren, dass der Fotograf und Dokumentarfilmer unheilbar an Krebs erkrankt war und sich mit diesem Film, einem so persönlichen wie welthaltigen Bericht seiner letzten großen Reise, von der Welt verabschieden wollte.

Van der Keuken war in Bhutan gewesen, in Burkina Faso, dem „Land der unbestechlichen Männer“, um zu sehen „wie mühsam das Leben ist und mit wie viel Freude es trotzdem gelebt wird“, am Niger, dem „Menschenfluss“, in Kathmandu, wo eine Schamanin versuchte, den Krebs aus seinem Körper zu saugen. Auf der Autobahn zum Filmfestival nach Rotterdam zu fahren, schien ihm der Inbegriff des Glücks zu sein.

Es war früher Nachmittag, und so still wie während der Aufführung des zweieinhalbstündigen Films war es selten im voll besetzten „Delphi“-Kino. Kaum hüstelte jemand, nur ein Kind hörte man kurz, als im Film minutenlang nur das runde Gesicht eines meditierenden Mönchs aus Bhutan zu sehen war. Nur zu sitzen und zu atmen ist eine große Kunst, die wir viel zu wenig beherrschen. Seltsam an dieser Aufführung im Delphi war, dass am Ende des Films die Hoffnung stand. Genau in dem Moment, als van der Keuken das Gefühl hatte, nur noch ein halbes Jahr leben zu dürfen, entdeckte er in New York ein neues Medikament, das tatsächlich zunächst gut anschlug.

Hatte man bis dahin den Film still und traurig als sein Abschiedswerk gesehen, verlor er nun plötzlich an Gewicht. Man war erleichtert, den Regisseur danach noch lange in einem selten schönen Gespräch mit seinem Freund Ulrich Gregor, dem Leiter des Forums, zu sehen, ihn von neuen Projekten erzählen zu hören, ihn später bestürmt zu sehen von jungen Filmstudenten.

Nun ist Johan van der Keuken doch gestorben. Er war einer der letzten ganz großen Dokumentaristen, wobei das Wort „groß“ nicht so recht zu passen scheint; zu bescheiden, zu spröde, zu fragend bei aller Klugheit, zu neugierig, um ideologisch zu werden, war Johan van der Keuken. Vor drei Jahren, bei einem Interview, hatte er gesagt: „Mir sind oft die Kategorien von Dokumentation und Fiktion viel zu streng: Der Film kommt aus einer Wirklichkeit, wird auf der Ebene der Fiktion verarbeitet und geht dann zurück in die Wirklichkeit der Zuschauer.“ Danach sprachen wir über Housemusik und den kiffenden marokkanischen Mopedkurier, der seinen wunderschönen Amsterdamfilm („Amsterdam – Global Village“) strukturiert.

1938 wurde van der Keuken in Amsterdam geboren. 1955 veröffentlichte er sein erstes Fotobuch: „Wir sind 17“. Weitere Fotobände folgten. Er schrieb viel über Film und Fotografie. Und vor allem hat er seit 1960 ungefähr 50 Filme gedreht, in denen es anfangs vor allem um die Welt der Wahrnehmungsspezialisten – Blinde, Taube, Künstler – ging und seit Anfang der Siebzigerjahre immer mehr um den Nord-Süd-Konflikt, um den Kapitalismus, den Fluss des Geldes (u. a. „I love Money“) und Ökologie. Er drehte einen Werbefilm gegen die Cruise Missiles, produzierte in den Siebzigern für das „Niederländische Palästina Komitee“ („Die Palästinenser“) und für die „Niederländische Vereinigung zum Erhalt des Wattenmeers“.

Wie nur wenige hatte er sein politisches Engagement mit musikalischen und poetischen Elementen verbunden, ohne dabei die Menschen, von denen er erzählte, zu verraten. Einmal sagte er, dass „meine Filme eine schwere Hand haben“. Am Anfang von „Das Auge über dem Brunnen“ („Above the well“, 1990), in dem indische Tänzerinnen zeigen, wie schwer es ist, so elegant wie ein Elefant zu tanzen, hatte er die Geschichte vom Mann erzählt, der von einem Tiger verfolgt wird: Um sich zu retten, klettert der Mann auf einen Baum. „Der Zweig, an dem er hängt, neigt sich gefährlich über einen ausgetrockneten Brunnen. Mäuse nagen an dem Zweig. Unter ihm, auf dem Boden des Brunnens, sieht er einen Haufen sich ringelnder Schlangen. Aus der Wand des Brunnens sprießt ein Grashalm, und auf der Spitze des Grashalms sitzt ein Tropfen Honig. Er leckt den Honig ab. Dies geschieht in einer geträumten Welt, die sich tausendmal wiederholt. Dies geschieht in der einzigen Welt, die wir haben.“ Und: „Ich bin dabei“, sagte der Filmer am Schluss, „und ich sehe es wie in einem Traum.“

Nosh van der Lely, seine Frau und ständige Mitarbeiterin, die immer für den klaren Ton seiner Filme zuständig war, sagt irgendwann in „De grote Vakantie“, dass wir Menschen im Innern eigentlich leer seien und gleichzeitig nie allein. Immer sind die anderen noch dabei und die Dinge dieser Welt. Im körnigen Fernsehbild sah man später Kosovoflüchtlinge, und auch im Körper van der Keukens gab es Soldaten und Flüchtlinge. In „De grote Vakantie“ gibt es eine Szene, in der sich van der Keuken mit seinem Arzt in Utrecht über seine Krankheit unterhält. Mit seiner ruhigen, klugen Stimme sprach er von seiner Scham, als Todkranker nicht mehr so zu sein wie die anderen. Es ging um eine Hormonbehandlung und dass die Sexualität dabei weggeht und dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn man die Prostata schon 1995 entfernt hätte.

Man sieht dann das Gesicht des Arztes, wie er ein bisschen entschuldigend lacht. Denn der Tod passiert ja immer nur den anderen und nie einem selbst.