paris, exil etc.
: Frankreich kümmert sich um seine Migrationskultur

Die Schätze der Diaspora

Die Migrationspolitik ist in Deutschland trotz rot-grüner Regierung auf Schlingerkurs. Die Halbherzigkeit der Integrationsbemühungen wird vor allem deutlich, wenn man sich das Engagement anschaut, mit dem die kulturelle Produktion von in Deutschland lebenden Ausländern öffentlich gemacht wird. Bis auf kleinere Initiativen und die Aktivitäten des – extra dafür ausgewiesenen – Hauses der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin gibt es keinen Platz für Migrationskultur. Und selbst im Berliner HKW konnte eine Ausstellung wie „Heimat Kunst“ letzten April nicht ohne begleitendes Symposium stattfinden, um einer angeblich diffusen Angst vor einem „nomadisierenden Milieu“ vorzubeugen, wie es Michael Thoss, der künstlerische Leiter des Hauses, im Katalog formuliert hat.

Eine solche Art von vorauseilendem Legitimitätsgehorsam ist den Franzosen fremd. Dort hat man sich längst daran gewöhnt, die Kulturen anderer Länder in den eigenen Identitätenpool mit einzubeziehen. Tatsächlich ist Paris wieder Europas Hauptstadt des Exils, der Migration und des globalen Austauschs, wie schon zu Anfang des Jahrhunderts.

Dieser Wandel, der sich seit Mitte der Achtzigerjahre erneut abspielt, spiegelt sich auch in den kulturellen Aktivitäten der Stadt wider. Derzeit kann man sich im Musée d’Art Moderne gleich auf zwei Etagen anschauen, wie sich Künstler nationenübergreifend vernetzt haben: Paris wird heute „pour escale“ genutzt, „als Durchgangsstation“, so der Titel der einen Ausstellung, an der 25 zeitgenössische KünstlerInnen aus 17 Ländern beteiligt sind, die momentan dort leben. Manche haben kurzfristige Stipendien, andere warten auf den internationalen Durchbruch, und für noch andere ist die Stadt zum Auffangbecken geworden angesichts der politischen und ökonomischen Krisen in ihrer Heimat. Welchem Künstler aus Kamerun wollte man es auch verdenken, wenn er im Westen lebt, um seine Kunst verkaufen zu können?

Das war in Paris offenbar schon immer so. Diesen Schluss legt jedenfalls die zweite Ausstellung „École de Paris“ nahe, die parallel zu „Paris pour escale“ im Erdgeschoss des Museums präsentiert wird. Aus der Zeit von 1904 bis 1929 hat man 81 KünstlerInnen versammelt, die die französische Metropole als Ort des Exils oder schlicht der Karriereplanung gewählt haben. So wurde der Spanier Pablo Ruiz Picasso hier als Ausländer zum Über-Ich der Kunst des 20. Jahrhunderts. Daneben haben russische Juden, japanische Drop-outs oder amerikanische Nachwuchstalente wie Man Ray in Paris gelebt – und deutsche Künstler, die vor dem Dogma des Expressionismus flüchteten. Diese Gemengelage versprengter Individuen führte wiederum zu keiner einheitlich formatierten Kultur, sondern zu diversen Stilen, auf die sich später Surrealisten, Konstruktivisten oder Realisten beziehen konnten. Noch immer profitiert Paris von den Kunstschätzen einer gelebten Diaspora.

An diese Tradition scheint auch „Paris pour escale“ anzuknüpfen. Dabei bezieht die Ausstellung eine gewandelte Aufmerksamkeit im Zuge der Geopolitik ins Konzept ein: Die Öffnung Richtung Osten nach dem Mauerfall bildet sich ebenso ab wie die anhaltenden Repressionen in China oder im Iran. Daneben kann eine Künstlerin wie Ruth Barabash aus Tel Aviv ihre ablehnende Haltung gegenüber der israelischen Palästinenser-Politik an diesem Ort besser artikulieren als in der aufgeheizten Atmosphäre zu Hause. Hier bleibt die Deterritorialisierung nicht bloß eine philosophische Floskel, sie bildet vielmehr das entscheidende Argument in der Auseinandersetzung.

Es spricht einiges für den offenen Charakter von Paris, wenn sich die Stadt auf diese Konflikte einlässt. Wer etwa von den Plastiktragetaschen des Iraners Ladan Shahrokh Naderi auf die Situation der sans papiers seine Rückschlüsse zieht, ist mittendrin im Diskurs über Migration und Kultur im dritten Jahrtausend. Berlin steht dieser Wechsel noch bevor. Man wird sehen, ob sich der neue Kulturminister Nida-Rümelin mehr dafür einsetzt als Michael Naumann – mit seinem gescheiterten Rettungsprogramm für die deutsche Filmwirtschaft. HARALD FRICKE