Sehnsucht nach Feinstoff

„Da geh ich nicht mehr hin!“ In Basel probt ein engagiertes Schauspielpublikum den Aufstand

Die Zeichen stehen auf Sturm. Und vielleicht lassen sich die Wind- und Wettergötter nicht so leicht wieder zähmen wie in Schauspielchef Stefan Bachmanns gleichnamiger Shakespeare-Inszenierung, mit der er seine dritte Basler Spielzeit eröffnete. Groß waren die Erwartungen auf allen Seiten, nachdem die Basler Crew – mit dem Rückenwind der „Theater des Jahres“-Auszeichnung – in der letzten Saison erstmals wieder einen leichten Zuschauerzuwachs verzeichnen konnte. Und nun floppt nicht nur dieser „Sturm“, sondern praktisch jede weitere Produktion auf den Hauptbühnen in dieser ersten Spielzeithälfte. Die Zuschauer bleiben dem größten Dreispartenhaus der Schweiz in Massen fern. Was ist los mit dem eben noch hoch gelobten Basler Schauspiel? Oder: Was ist los mit dem Basler Publikum?

Mitte der Achtzigerjahre gingen hier pro Jahr über 300.000 Besucher ins Theater. Vor Michael Schindhelms Amtsantritt als künstlerischer Direktor im Jahre 1996 waren es noch 245.000, seither sind die Besucherzahlen kontinuierlich weitergesunken. Nach der gründlich missglückten ersten Spielzeithälfte bewegt sich das Theater nun auf jene absolute Schmerzgrenze zu, wo die Auslastung des Hauses unter die 50-Prozent-Marke zu schlittern droht. Denn auch in Oper und Tanztheater läuft es nicht nach Wunsch. Wenn der Negativtrend dieser Spielzeit anhält, werden es am Ende der Saison 166.000 Personen sein, die am Theater Basel eine Aufführung besucht haben. Die Halbierung der Zuschauerzahlen in weniger als zwei Jahrzehnten, der Verlust von rund 80.000 Besuchern unter der Direktion Schindhelm, das ist inzwischen auch ein Politikum.

Natürlich ist es zu einfach, die Schuld allein der gegenwärtigen Leitung in die Schuhe zu schieben. Dass das Theater seine führende kulturelle Leitfunktion in den letzten Jahrzehnten sukzessive verloren hat, ist ein komplexes gesamtgesellschaftliches Phänomen und fast an jedem Theater zu spüren. Aber es ist auch zu simpel, den Grund immer in den Sparzwängen des Theaters zu suchen, wie dies Schindhelm gerne tut. Dass die Lage dramatisch ist, hat aber auch das Theater Basel erkannt, und so rief es diese Woche unter dem Titel „Da geh ich nicht mehr hin!“ zur Publikumsdiskussion. Und wie sie kamen: Das Foyer wurde buchstäblich gestürmt. Für 400 Personen war gestuhlt, über 1.000 Personen drängten hinein. Es war der lebendige Beweis, dass das Basler Publikum an Theater interessiert ist, aber zum großen Teil Mühe hat mit dem, was ihm geboten wird.

„Nur noch Blut, Sperma und Kotze!“ So sehen es, in populistischer Verkürzung, die einen und wenden sich angewidert ab. „Das Basler Publikum ist von unserer neuen Ästhetik überfordert!“ So sieht es der Schauspielchef selber, der in einem ziemlich selbstgerechten Zeitungsinterview im Vorfeld der Diskussion beträchtlich Öl ins Feuer goss. Bachmanns Überforderungsthese hat weite Kreise, die dem Theater durchaus nahe stehen, sehr verärgert. Und so prasselte der geballte Unmut auf die Theaterleitung nieder. Pubertär! Arrogant! Déjà-vu! Ältere Zuschauer klagten mehr Werktreue ein, jüngere betonten, wie sie die ewige Wiederholung von Exzess und Ekstase zunehmend langweile. Alle Voten, auch die vereinzelten positiven, wurden heftig beklatscht. Selten hat man 1.000 Menschen angeregter im Gespräch gesehen.

Basel ist kein theaterästhetisches Entwicklungsland. Die Baumbauer-Ära der frühen Neunzigerjahre hat hier auf höchst innovative Weise auch die Sehnsucht nach Feinstofflichem genährt, die von der heutigen Crew nicht gestillt wird. Der Aufstand des Publikums hier ist deshalb nicht zu vergleichen mit jenem vor einem Jahr in Luzern, wo Barbara Mundel, Exdramaturgin der Berliner Volksbühne, die Zuschauer nach zwölf Jahren gepflegter Langeweile unter Horst Statkus mit ganz neuen Sichtweisen konfrontierte. Die Frage ist auch nicht: Regietheater ja oder nein? Was Theater spannend macht, ist seine Reibung an jeweils verschiedenen Umständen und Referenzsystemen. Ohne Regievisionen ist das nicht zu haben. Die dürfen dann allerdings befragt werden nach ihrer Tiefe, ihrer Kraft, ihrer Nachhaltigkeit. Und da liegen zur Zeit die gravierenden Defizite im Basler Schauspiel.

Wenn in Bachmanns „Sommernachtstraum“ fast jede menschliche Annäherung über Cunnilingus oder Fellatio geschieht, ist das ein inhaltliches und ästhetisches Abkürzungsverfahren, das allein auf plakative Effekte zielt. Wenn im „Sturm“ über 20 Minuten lang in völliger Statik Sloterdijks „Menschenpark“-Text zitiert wird, ist das Publikum keineswegs überfordert, sondern spendet entnervten Zwischenapplaus, will sagen: „Spielt weiter, Jungs! Wir haben’s kapiert!“ Wenn das Schauspiel diese Reaktionen ernst nimmt – wetten, dass dann das Publikum nicht nur zu den Protestveranstaltungen in Scharen marschiert, sondern auch wieder in die Inszenierungen der Bachmann-Crew und ihres großartigen Ensembles? Denn eines ist ebenso klar: Die können was!

ALFRED SCHLIENGER