Eine solche Tat bleibt

Jan Philipp Reemtsma sagt im Prozess gegen seinen mutmaßlichen Entführer Thomas Drach aus. Die Ereignisse sind, so Reemtsma, wieder nahe gerückt

aus Hamburg JAN FEDDERSEN

Fast fünf Jahre sind vergangen, seit der Hamburger Philologe Jan Philipp Reemtsma aus seinem Haus im Hamburger Stadtteil Blankenese entführt worden war. Gestern machte der Entführte seine Aussage vor dem Hamburger Landgericht im Prozess gegen Thomas Drach, dem von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen wird, das Kidnapping geplant und ausgeführt zu haben. Das Gericht ließ Reemtsma gut zwei Stunden berichten. Vorausschicken aber, so Reemtsma, wolle er, dass alle Mühe, das „Ereignis“ ad acta zu legen, zu vergessen, gerade in diesen Tagen misslingt.

Manchmal würde ihm erst mit Verzögerung gewahr, dass es „das eigene Leben war, mit dem gespielt wurde“. Seit Prozessbeginn Mitte Dezember sei ihm die Entführung wieder „nahe gerückt“. Und sagen wolle er auch, obwohl er den Angeklagten Thomas Drach während der 33 Tage in der Gewalt seiner Menschenhändler nie zu Gesicht bekommen habe, dass sich seine Beobachtungen von Thomas Drach während der vorherigen Verhandlungstage deckten mit jenen Eindrücken, die er von ihm in dessen Gewalt bekommen habe. In seiner Person erkenne er eine Mischung aus „Grandiositätsfantasien und einem Gekränktsein, wenn der Weltenlauf sich seinem Willen nicht fügt“.

Auf die Frage des Gerichts, ob er sich beim Kidnapping gewehrt habe, antwortete Reemtsma, nein, denn auf solche Situationen sei er nicht vorbereitet gewesen. „Nix wehren, nix passiert“, habe ihm der Mann gesagt, der ihn überwältigte, wobei Reemtsma nicht einschätzen konnte, ob das mangelhafte Deutsch gespielt gewesen sei. Um zu seiner Freilassung beizutragen, wäre ihm alles recht gewesen. In diesen Tagen habe er festgestellt, wie „zerstörerisch Hoffnung sein kann“. Denn besser sei ja, sich mit der „schlimmstmöglichen Wendung der Dinge abzufinden und dabei doch pragmatisch das Richtige zu tun“.

Dann antwortete Reemtsma sich selbst auf seine immer wieder gestellte Frage, was denn nun das Verbrechen gewesen sei. Nicht jedenfalls, sagte er ruhig, die Aussicht sterben zu müssen. Vielmehr die Ungewissheit, der Willkür ausgesetzt zu sein, dass da einer ist, der über sein Leben oder seinen Tod entscheidet, ohne sich darauf einstellen zu können. Morgens um acht beispielsweise sei er in seiner Haft gewohnt gewesen aufzustehen. Wenn dann bis neun Uhr niemand kam, habe er gefürchtet, dass es nun so weit sei, zurückgelassen zu werden, so dass niemand ihn finde, mit der Wahrscheinlichkeit, dass er verdurstet: Angekettet konnte er sich nicht selbst versorgen. Immer wieder betont Reemtsma dies: allein gelassen und vergessen zu werden wie eine faule Ware.

Während dieser Erzählung wird etwas von der Angst spürbar, die Reemtsma verspürt haben muss – und noch immer zu spüren scheint. Todesangst um sich selbst, vor allem aber um seine Familie, um seine Familie und seinen Sohn, wie er sagt. Anders als in seinem Buch wird die Kälte dieses Verbrechens ahnbar – da erlitt einer eine Tortur, die er nicht persönlich nehmen will und doch persönlich nehmen muss, weil er das erste Opfer war.

Reemtsma verschweigt auch nicht, versucht zu haben, zu Drach ein quasi-menschliches Verhältnis aufzubauen, um „Hemmungen“ zu begründen, damit den Tätern im Fall des Falles klar wird, dass sie keinen Niemand umbringen würden.

Reemtsmas Sohn, der als Zeuge nicht gehört wird, leide seit Prozessbeginn wieder unter Albträumen, gab sein Vater zu Protokoll. Die Familie werde wohl gezeichnet bleiben. „Man kann so tun, als gäbe es viele andere Themen, aber oft kehrt diese Zeit zurück“, beschrieb Reemtsma sein Gefühl, dass er nicht mehr grundsätzlich unverwundbar durch die Welt gehen könne. „So eine Tat verändert das Leben. Sie bleibt.“ Sie könne verblassen, aber werde immer prägend bleiben. Bestimmte Wendungen und Geräusche würden auf immer mit dieser Entführung verknüpft bleiben: Singende Vögel im Frühling, weil im Frühling, als Vögel sangen, die Erpresserschreiben ankamen; ein Rascheln im Gebüsch, weil dies das Geräusch war, mit dem die heile Welt des Jan Philipp Reemtsma zerstört wurde, das Wort Keller, weil das Wort jenes Gefängnis bezeichnet, in dem er der Willkür seines Entführers und potenziellen Mörders ausgesetzt war.

Thomas Drachs Anwälte verzichteten am Ende der Aussage Reemtsma auf Fragen an das Opfer ihres Mandanten – auf dessen ausdrückliches Geheiß. Es war nicht erkennbar, ob der Bericht Reemtsma geholfen haben könnte, sich einen Teil einer schweren Last von der Seele zu sprechen. Thomas Drach hat das Seine dazu beigetragen, dass dem Opfer keine Chance bleibt, sich von einer traumatischen Zeit zu verabschieden.