Wir Fremdelnden

Das Interkulturelle boomt. Kein Wunder: Das Verstehen zwischen den Kulturen wird als ernstliches Problem betrachtet. Die neueste Sprachphilosophie aber lässt diesen Boom fragwürdig erscheinen

Das Problem des interkulturellen Verstehens beginnt im eigenen Heim

von DAVID LAUER

Erinnert sich noch jemand an den Kulturrelativismus? Das war ein einstmals einflussreicher Diskurs, der behauptete, wir könnten fremde Kulturen nie wirklich verstehen. Bei dem Versuch, die Überzeugungen der fremden Kultur zu beschreiben, würden wir nämlich notgedrungen unsere Begriffe benutzen – ihr Denken in unseres übersetzen. Darin werde aber das Fremde seiner Authentizität beraubt und in eine verfälschende Form gezwängt.

Olle Kamellen? Nicht unbedingt. Relativisten sind wie Spießer: Niemand gibt zu, einer zu sein. Daraus jedoch zu schließen, es gäbe keine, wäre zumindest voreilig. Sicher, die These von der Verstehensbarriere zwischen den Kulturen ist tief im Sumpf der Diskurse versunken. Aber die Idee, es sei doch etwas ganz und gar anderes, die Angehörigen einer anderen Kultur zu verstehen als die eigenkulturellen Nachbarn, irrlichtert nach wie vor unter der Oberfläche umher und wirft an unterschiedlichen Stellen Blasen. Harmlose zuweilen, wenn TV-Reisemagazine entlegene Kulturen geradezu reflexhaft als „geheimnisvoll“ und „rätselhaft“ etikettieren. Beunruhigende, wenn sich herausstellt, dass zu den rätselhaften Praktiken der entlegenen Kultur leider auch die Klitorisbeschneidung zählt und öffentlich die Frage gestellt wird, ob MitteleuropäerInnen darüber wohl angemessen urteilen können. Beängstigende, wenn Angehörige einer vermeintlich entlegenen Kultur ins eigene Haus einziehen, die Fremdheit plötzlich als Bedrohung erscheint und Abwehr mobilisiert: Weiß man denn wirklich, woran man mit diesen Leuten ist?

Die größte Blase ist allerdings der Boom des Interkulturellen: Wenn es eines Beleges bedürfte, dass das Verstehen zwischen den Kulturen als ernstliches Problem betrachtet wird, dann läge er in dem Umstand vor, dass es neben der, wie es bei Waschmitteln immer heißt, „herkömmlichen“ Pädagogik, Germanistik und Hermeneutik alle diese Dinge jetzt auch als „interkulturelle“ geben muss. Der Waschkraft wegen. Ohne „interkulturelle Kompetenz“ oder „interkulturelle Kommunikation“ oder wie die Etiketten auch immer heißen, kommt man heute kaum noch aus.

Ist es also doch entscheidend, ob Menschen, die einander zu verstehen versuchen, aus unterschiedlichen Kulturen stammen? Es scheint, als sei diese Vermutung zäher als vermutet und trotz ihrer Verwandtschaft zum abgetauchten Kulturrelativismus durchaus lebendig.

Um sie zu hintertreiben, muss man bei den fraglichen Konzepten selbst ansetzen: Auf der einen Seite arbeiten Politik- und Sozialwissenschaftler wie Pierre-André Taguieff, dessen Buch „Die Macht des Vorurteils“ (Hamburger Edition, 617 Seiten, 68 Mark) kürzlich ins Deutsche übersetzt wurde, an der Aushebelung der tief verwurzelten romantischen Vorstellung von Kulturen als klar voneinander abgrenzbare, durch einen gemeinsamen Schatz von Sprache und Geschichte zusammengehaltene Einheiten. Taguieff diagnostiziert die Einteilung der Menschen in solche imaginierten Einheiten als eine neue Form des Rassismus, dessen kulturalistischer Diskurs den biologistischen fast verdrängt hat.

Auf der anderen, weniger nahe liegenden Seite lassen sich die vergleichsweise abstrakten Argumente der Sprachphilosophie gegen die geläufige Idee in Stellung bringen, dass Verstehen darin besteht, ungefähr dieselben Vorstellungen im Kopf zu haben wie ein Gegenüber. Die ebenfalls kürzlich übersetzte und in Deutschland mit großem Interesse aufgenommene Sprachtheorie des amerikanischen Philosophen Robert Brandom, ausgebreitet in seinem tausendseitigen Werk „Expressive Vernunft“ (Suhrkamp Verlag, 1.014 Seiten, 148 Mark), kann zeigen, wo der Fehler liegt.

Wie Brandom ausführt, ist die Bedeutung von Äußerungen holistisch verfasst. Was eine Äußerung für eine Person bedeutet, hängt davon ab, was ihrer Ansicht nach aus der Äußerung folgt, welche Gründe ihrer Ansicht nach für sie sprechen und welche anderen möglichen Äußerungen dadurch ausgeschlossen werden.

Die Bedeutung dessen, was eine Person glaubt oder sagt, lässt sich also nur durch Verweise auf das erläutern, was diese Person sonst noch glaubt oder sagt. Da nun aber keine zwei Menschen auf der Welt bis ins Detail genau dasselbe glauben, kann die Bedeutung einer Äußerung immer nur sprecherrelativ angegeben werden. Worte bedeuten im Munde einer Person im Allgemeinen nicht dasselbe wie im Munde einer anderen.

Daraus folgt aber: Das Problem, das gewöhnlich im interkulturellen Verstehen erblickt wird, beginnt in Wirklichkeit schon im trauten Heim. Eine Sprecherin kann nie davon ausgehen, dass ihr Gegenüber unter einem Ausdruck dasselbe versteht wie sie selbst, völlig gleichgültig, ob es sich um den Angehörigen einer anderen Kultur oder um ihre eigene Schwester handelt. Brandom macht also die Annahme, dass Menschen unterschiedliche Perspektiven auf die Welt haben, keineswegs rückgängig, sondern denkt sie vielmehr zu Ende.

Für das Verstehen heißt dies nun Folgendes: Eine Interpretin hat eine Äußerung verstanden, sofern sie diese in ihrem eigenen Meinungsnetzwerk verorten kann. Das kann sie jedoch gerade nicht, indem sie die Äußerung des Sprechers wörtlich wiederholt, denn diese hat im Allgemeinen in ihrem Mund eben nicht die gleiche Bedeutung wie in seinem. Verstehen heißt daher nicht, genau die Worte zu wiederholen, die jemand anderes gesagt hat, sondern in eigenen Worten dasselbe sagen zu können. Verstehen beruht auf der Fähigkeit, als äquivalent unterstellte Ausdrücke gegeneinander auszutauschen. Ohne diese Substitutionsfähigkeit wären wir bloße Lauteproduzenten, aber keine Kommunizierenden.

Und genau deshalb ist das Plädoyer, im Verstehen anderer Kulturen diesen nicht unsere eigenen Kategorien zu unterschieben, hoffnungslos paradox: Eine Interpretin, die aus Respekt vor dem Anderen prinzipiell nichts „Eigenes“ oder Bekanntes in einer anderen Sprache unterstellen will, könnte nur die Laute nachäffen, die sie hört. Sie wäre nicht nur unfähig zu sagen, worüber ein Sprecher redet, sie wäre auch unfähig zu sagen, ob da überhaupt jemand redet und nicht bloß Geräusche macht.

Sowieso glauben keine zwei Menschen auf der Welt genau dasselbe

Verstehen besteht darin, die Gleichwertigkeit eigener und fremder Äußerung zu unterstellen und darin eine gemeinsame Welt zu konstruieren; in ihr kann man sich aus unterschiedlichen Perspektiven auf dasselbe Objekt beziehen und über ein Objekt unterschiedlicher Meinung sein, ohne deswegen von verschiedenen Dingen zu sprechen. Natürlich kann man dabei zu dem Ergebnis kommen, dass fremde Sprecher Meinungen haben, die wir für falsch halten, ja dass sie von Dingen und Sachverhalten sprechen, die wir in unserer Sprache gar nicht kennen. Nur: Die Aussage, ein Begriff der fremden Sprache habe keine exakte Entsprechung in unserer eigenen, lässt sich nur sinnvoll treffen, wenn man diese Diskrepanz vor dem Hintergrund einer weitestgehend unproblematischen Übersetzung auch sichtbar machen kann.

Ob intra- oder interkulturell, Verstehen bedeutet also immer und überall, unterschiedliche diskursive Perspektiven zu überbrücken. Doch gerade deshalb läuft der Skeptizismus hinsichtlich des Verstehens anderer Kulturen leer. Denn er gewinnt nur Kredit durch die Vorstellung, die Perspektivenüberbrückung sei eine besondere Schwierigkeit des interkulturellen Verstehens. Das ist sie aber nicht.

Soll das nun aber heißen, dass es keinen Unterschied macht, ob ein Gegenüber Deutsch oder eine Fremdsprache spricht? Soll etwa bestritten werden, dass es in der Realität zu Verständnisschwierigkeiten und Missverständnissen zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft kommt? Natürlich nicht. Dass wir eine fremde Kultur nicht verstehen, ist die Regel. Der Punkt ist: Dahinter verbirgt sich kein metaphysischer Abgrund und nichts Prinzipielles, sondern meist der schlichte Umstand, dass wir nichts von ihr verstehen. Ein Umstand, dem sich abhelfen lässt. Die Unterschiede im Nichtverstehen zwischen Menschen, egal aus welcher Kultur, sind solche des Grades, nicht der Qualität.

Dadurch wird die Einsicht, dass Kulturen sich in ihren Welterschließungen unterscheiden, nicht überholt. Sie hat unschätzbare Dienste geleistet, den kolonialistischen europäischen Blick auf den Rest der Welt zu diskreditieren. Bevor sie sich durchsetzte, wurden außereuropäische Welterschließungen nicht als Alternativen, sondern als primitivere Varianten der europäischen aufgefasst, als zeitlich retardierte Versionen unserer selbst, denen mit ein bisschen Entwicklung auf die Sprünge zu helfen war.

Allerdings hat diese Einsicht sich in einer Weise verselbständigt, die es nun geboten erscheinen lässt, den wuchernden Kulturbegriff ein wenig zurechtzustutzen. Denn es geht nicht mehr vorrangig darum, angemessen über die anderen, sondern angemessen mit ihnen zu sprechen, und dieser Prozess wird durch die Einschaltung des Kulturbegriffs eher verdunkelt als erhellt. Um Verstehen zu verstehen, ist der Kulturbegriff überflüssig.