Für sozialverträgliche Zuwanderung

Deutschland und Europa brauchen Einwanderung, deshalb wird es in Zukunft einen Konkurrenzkampf um Einwanderer geben. Da sich diese dem Reproduktionsverhalten des Landes anpassen, ist langfristig auch eine Geburtenpolitik notwendig

Alle Staaten der Europäischen Union haben defizitäre Reproduktionmuster Die öffentliche Debatte wird von populistischer Demagogie bestimmt

von DIETER OBERNDÖRFER

Schon jetzt sind alle Staaten Europas Einwanderungsländer geworden. Dies gilt heute auch für Portugal, Spanien, Italien und Griechenland – vormals klassische Auswanderungsländer. Die demografische Entwicklung, die Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung Europas, und der damit verbundene Bedarf an Arbeitskräften wird die Öffnung seiner Gesellschaften für weitere verstärkte Zuwanderung erzwingen. Dies gilt ganz besonders für Deutschland.

Für den Bestandserhalt der Bevölkerung von Industriegesellschaften mit hohem Niveau der medizinischen Versorgung ist eine statistische Geburtenhäufigkeit von 2,1 Kindern pro Frau erforderlich. In den letzten Jahren betrug sie in Deutschland jedoch nur 1,34 und bei einem Anteil der Ausländer an den Geburten von 13,3 Prozent für die deutschen Frauen lediglich 1,26. Als Folge niedriger Geburtenzahlen nahm die endogene deutsche Bevölkerung schon seit 1970 um circa 4 Millionen ab. Dass die Wohnbevölkerung Deutschlands dennoch auf heute über 82 Millionen zunahm, ging zu etwa zwei Dritteln auf das Konto ausländischer Zuwanderer und zu einem Drittel auf das Konto deutscher Aussiedler aus Ost- und Südosteuropa. Die Geburtenhäufigkeit der ausländischen Frauen ist inzwischen mit 1,6 erheblich unter die Bestandszahl von 2,1 gesunken und geht weiter zurück.

Aber nicht nur Deutschland, sondern alle Staaten der Europäischen Union und Osteuropas haben defizitäre Reproduktionsmuster. Die Geburtenhäufigkeit der Frauen Spaniens von 1,15, Italiens von 1,22 und Griechenlands von 1,31 liegt inzwischen noch unter der Deutschlands. Eine höhere Geburtenhäufigkeit als Deutschland weisen Portugal mit 1,44 und die Niederlande mit 1,55 auf. Die günstigsten Geburtenraten haben derzeit England und Frankreich mit 1,70 und 1,72, Schweden, Dänemark und Finnland mit je 1,61 bis 1,74 sowie Irland mit 1,91. Ungarn, die baltischen Staaten und Russland haben Reproduktionsraten, die den extrem niedrigen Italiens und Spaniens entsprechen. Die Tschechische Republik liegt mit 1,10 sogar noch darunter.

Angesichts dieser Bevölkerungsdynamik bestehen Zweifel, dass die Staaten des früheren Ostblocks noch über ein ausreichendes eigenes Reservoir an Arbeitskräften zum Aufbau leistungsfähiger Volkswirtschaften verfügen werden.

Die innereuropäische Migration der Sechziger- und Siebziger Jahre von vornehmlich ungelernten Kräften aus den Mittelmeerstaaten nach dem Norden zur Arbeit in alte Industrien, den Bergbau und den Dienstleistungssektor stagniert schon seit langem auf niedrigem Niveau. Bis Anfang der Achtzigerjahre herrschte ein großes Kommen und Gehen. Von über 30 Millionen Zuwanderern, die nach Deutschland kamen, kehrten etwa 24 Millionen in ihre Heimatländer zurück. In Griechenland hatten fast 8 Prozent der Bevölkerung vorübergehend in Deutschland gearbeitet. Innerhalb Europas hat jetzt allerdings die Wanderung technisch-wissenschaftlicher Intelligenz und von Führungskräften aus Kommerz und Wirtschaft stark zugenommen.

Der wichtigste Faktor für ausländische Zuwanderung ist aber schon seit langem nicht mehr die Anwerbung von Arbeitskräften, sondern der Nachzug von Familienangehörigen, die so genannte Familienzusammenführung. So ist die Zunahme der ausländischen Bevölkerung Deutschlands seit Anfang der Neunzigerjahre von circa 4 auf heute 7,3 Millionen primär das Ergebnis von Familiennachzug und natürlicher Vermehrung.

Mit über 2 Millionen sind die Türken die größte Zuwanderungsgruppe. Migranten kamen und kommen aber auch aus der Peripherie Europas, aus Nordafrika und verschiedenen Regionen und Ländern der Dritten Welt. Die Zuwanderung aus Osteuropa, die viele nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Staaten erwarteten, ist bisher nicht eingetreten. Wegen der schon erwähnten niedrigen Geburtenzahlen der Staaten Osteuropas werden auch sie beim Aufbau ihrer Volkswirtschaften auf den Import ausländischer Arbeitskräfte angewiesen sein. So ist Polen heute schon ein Zuwanderungsland für Arbeitskräfte aus Weißrussland, der Ukraine und Russland geworden. Auch Ungarn hat Zuwanderer aus Rumänien und dem früheren Jugoslawien aufgenommen und exportiert selbst keine Arbeitskräfte in nennenswertem Umfange.

Zum Auffangen der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der schrumpfenden und alternder Bevölkerungen wird der Zuwanderungsbedarf der europäischen Union für die nächsten Jahrzehnte auf 35 – 40 Millionen Nettozuwanderer geschätzt. Nach einer Studie des renommierten Migrationsforschers Rainer Münz werden in den nächsten Jahrzehnten höchstens 4 Millionen Nettomigranten aus Osteuropa kommen. Für Deutschland selbst schlagen verschiedene Studien eine Nettozuwanderung von jährlich 300.000 –  500.000 vor. Bei 300.000 stiege der Anteil der Zuwanderer an der Bevölkerung Deutschlands innerhalb der nächsten 35 Jahre von jetzt 9 Prozent auf circa 20 Prozent – dem heutigen Anteil der Ausländer an der Wohnbevölkerung der Schweiz. Bei einer relativ mäßiger Zunahme der Einbürgerungen vor allem auf Grund der jetzt möglichen Einbügerung der Kinder von Ausländern (Jus soli) betrüge der Ausländeranteil aber nur 13 – 15 Prozent.

Bloße Zuwanderung wird die Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung auf die Dauer nicht aufhalten können, da auch Zuwanderer altern und sich in ihrem Reproduktionsverhalten an die Einheimischen angleichen. Gefordert wäre daher von der Politik eine energische Politik der Geburtenförderung, wie sie mit erheblichem Erfolg in Frankreich und nordischen Staaten möglich war. Letztere zeigen, dass sehr hohe Frauenarbeitsquoten mit hohen Fertilitätszahlen vereinbar sind. Die niedrigsten Geburtenzahlen finden sich heute in Spanien und Italien – den Staaten mit den niedrigsten Frauenbeschäftigungsquoten Europas. Über eine sozialverträglich gestaltete Zuwanderung und eine sie begleitende Geburtenpolitik könnte für Deutschland Zeit für eine Verzögerung und soziale Abfederung des langfristig unvermeidlichen Schrumpfungsprozesses der Bevölkerung gewonnen werden.

Schon eine Anhebung der Geburtenhäufigkeit um nur 10 – 15 Prozent würde die Alterung der Bevölkerung wesentlich verlangsamen. Das Hauptproblem der dringend erforderlichen massiven Zuwanderungspolitik wird in Zukunft jedoch darin bestehen, die in vielen Bereichen der Wirtschaft aller Staaten Europas benötigten Millionen qualifizierter Zuwanderer überhaupt zu finden. Das Fiasko der Green Card – nach einem halben Jahr haben sich wenig mehr als 3.000 Bewerber für 20.000 Cards gemeldet – verdeutlicht die Realitätsferne der derzeitigen Zuwanderungsdebatte Deutschlands.

Um qualifizierte Zuwanderer muss in Zukunft im Wettbewerb mit anderen Staaten geworben werden. Dieser Wettbewerb wird sich schon bald verschärfen. Dieser Sachverhalt wurde in Deutschland bislang nicht zur Kenntnis genommen, und dies, obwohl die Wanderungsbilanz schon 1997 und 1998 negativ war, also mehr Menschen weg- als zugezogen sind. Der kleine Wanderungsüberschuss von 1999 ist allein dem Zuzug von circa 80.000 deutschen Aussiedlern, einem Auslaufmodell der Zuwanderung, zu verdanken. Die öffentliche Debatte wird zur gleichen Zeit immer noch von kleinlichen Abwehrstrategien populistischer Demagogie bestimmt. So wird jetzt sogar noch eine weitere Beschneidung der Asylgewährung gefordert, obwohl die Bundesrepublik im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl bei den Asylgewährungen in Europa inzwischen auf dem 11. Platz steht. Mit der zuletzt über Green und Blue Cards versuchten Neuauflage des früheren extrem integrationshemmenden deutschen Gastarbeitermodells, also der Anwerbung nur für zeitlich befristete Aufenthalte, hat Deutschland wenig Chancen gegenüber der internationalen Konkurrenz. Potentielle Zuwanderer werden in die Länder gehen, die ihnen langfristig die besten Zukunftsperspektiven bieten. Dazu gehört Deutschland nicht. Die Forderungen, Zuwanderer sollten sich gefälligst in die deutsche Leitkultur und die Gewohnheiten und Sitten der örtlichen Bevölkerung einfügen, müssen abschreckend wirken. Sie sind ein Aufruf zum Mobbing und zur kulturellen Vergewaltigung durch die Ortsansässigen. Wer von Einwanderern eine Anpassung an die Vorstellungen und Gewohnheiten der Provinzkultur verlangt, will in Wirklichkeit weitere Einwanderung verhindern. In Artikel 3 des Grundgesetzes heißt es u. a. „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, [...] seiner Heimat [...], seines Glaubens [...] benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Einige Protagonisten der Leitkultur haben behauptet, das Grundgesetz sei die Messlatte ihre Leitkultur. Es wäre konsequent, wenn dieses Bekenntnis auch für Zuwanderer Geltung hätte.