MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER SCHNELL BESPROCHEN VON KOLJA MENSING
: Schneller lesen

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Es begann im Ersten Weltkrieg, in den Ausbildungslagern der Royal Air Force. Da britische Piloten im Luftkampf Freund und Feind nicht schnell genug unterscheiden konnten, wurde ein spezielles Trainingsprogramm entwickelt. Bilder von Flugzeugen wurden in immer höherer Frequenz auf eine Leinwand projiziert, und zuletzt gelang es den Piloten, die Maschinen auch dann zu erkennen, wenn sie nur für das Fünfhundertstel einer Sekunde zu sehen waren. Die im Ersten Weltkrieg gewonnene Erkenntnis, dass das menschliche Auge offenbar mit einer bis dahin nicht geahnten Geschwindigkeit Informationen aufnehmen kann, wurde auf das Lesen übertragen. In den Sechzigerjahren begannen US-amerikanische Forscher mit der Entwicklung von Programmen, die die Beweglichkeit des Auges verbesserten und so die Lesegeschwindigkeit durchschnittlicher Versuchspersonen innerhalb kürzester Zeit erheblich steigerten. Die Methode wurde unter dem Namen speed reading bekannt.

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Giovinazzos Block

Buddy Giovinazzo: „Broken Street“. Aus dem Amerikanischen von Ango Laina. Maas Verlag, Berlin 2000. 322 S., 19.80 DM

„Langsames und genaues Lesen stört das Verständnis. Schnelleres Lesen und das Lesen in sinnvollen Blöcken hingegen fördern das Verständnis.“ (Tony Buzan: „Speed Reading“)

„Ich war acht Jahre alt, als wir von Newark hierher zogen. Mein Bruder, mein Vater und ich. Angemeldet war ich in der Public School 116, und bis zu meinem zwölften Lebensjahr besuchte ich die Schule regelmäßig. Morgens stand ich auf, ging zur Schule, kam wieder nach Hause, spielte bis zum Abendessen vor dem Haus, blieb dann drin, sah bis neun Uhr fern und ging dann ins Bett. Richtige Scherereien hatte ich nie...“ Mit diesen knappen Worten eröffnet der amerikanische Schriftsteller und Filmemacher Buddy Giovinazzo seinen Roman „Broken Street“, kurz bevor er innerhalb von vier Seiten aus dem achtjährigen Vorzeigekind einen zwölfjährigen Kleindealer macht.

„Broken Street“ ist ein klassischer Entwicklungsroman unter den Bedingungen des spätmodernen Großstadtmilieus: Der Erzähler, der das ganze Buch hindurch ohne Namen bleibt, arbeitet sich in den nächsten Jahren vom Dealen zunächst zum Autodiebstahl vor und dann zur Hehlerei, und mit den steigenden Einkünften aus seinen kriminellen Unternehmungen werden auch die von ihm selbst konsumierten Drogen von Jahr zu Jahr aufwendiger. Man ist also nicht überrascht, als es schließlich um Totschlag und eine längere Gefängnisstrafe geht.

Erstaunlich ist allein, dass es Giovinazzo gelingt, seine strikt lineare Erzählweise über einen Romanblock von gut 300 Seiten durchzuhalten: Es gibt keine anderen Handlungsstränge, Nebenfiguren verschwinden von einer Seite zur nächsten im Nichts, und psychologische Reflexionen gibt es bei Giovinazzo nur als lässige Randbemerkung: „Es war ein Spiel des Hätte-ich-doch“, resümiert sein Erzähler im Gefängnis, nachdem er von seinen Mitgefangenen vergewaltigt und beinahe umgebracht worden wäre: „Hätte ich doch nur dies und nicht das gemacht.“ Für mehr ist in solchen narrativ beschleunigten Büchern keine Zeit.

Außer für die Liebe natürlich, und darum gibt es natürlich auch eine Frauenfigur in „Broken Street“. Allerdings wird gleich zu Beginn des Romans ihr Tod angekündigt. Buddy Giovinazzo ist wirklich ein sehr ökonomisch denkender Schriftsteller.

Manni der Libero

Thees Uhlmann: „Wir könnten Freunde werden. Die Tocotronic-Tourtagebücher“. Ventil Verlag, Mainz 2000. 141 Seiten, 22 DM

„Alle Leseprobleme und Lernschwierigkeiten können behandelt und die Situation verbessert werden. In den meisten Fällen können die Probleme vollkommen überwunden werden.“ (Tony Buzan: „Speed Reading“)

Thees Uhlmann, entnimmt man dem Vorwort, gilt in Hamburger Musikerkreisen als der Gitarrist mit dem schlechtest gestimmten Instrument der Stadt. Trotzdem entschlossen sich Tocotronic, ihn 1999 als Roadie mit auf ihre „K.O.O.K“-Tour zu nehmen und ihn obendrein noch mit der Aufgabe des Chronisten zu betrauen: Thees Uhlmann sollte ein Reisetagebuch für die Homepage der Band schreiben. Dieser Auftrag war sicherlich ein noch größeres Wagnis, als diesem jungen Mann das Stimmen der Gitarren und Verkabeln der Verstärker zu überlassen, denn, so bekennt der Autor nach zwei Monaten Tagebuch-Eintragungen: „Ich kann nicht lesen. Also – ich kann natürlich lesen, aber es bringt mir keinen Spaß. Ich habe noch nie gelesen. Ich könnte sogar hier die Bücher aufzählen, die ich gelesen habe, und es würde nicht mal fünf Zeilen füllen ... Mein erstes Buch war ‚Ufos über Bad Finkenstein‘, dann kam ‚Manni der Libero‘.“

Thees Uhlmann kann also nicht lesen. Dem literarischen Genre des Tourtagebuchs, das in kürzerer Form ja vor allem von Musikmagazinen gepflegt wird, hat er trotzdem einiges beizutragen. Gegen die schnelllebige Chronologie des Konzertkalenders (1. Juni München, 2. Juni Wien, 5. Juni Hamburg) und den immergleichen Ablauf der einzelnen Tage (fahren, aufbauen, abbauen, Hotelzimmer verwüsten) stellt er freischwebende Betrachtungen über die Befindlichkeit junger Menschen in den 90ern: „Es ist ein komisches Gefühl, wenn man merkt, dass man – jetzt ein richtiges Wort finden – Sachen schafft, erreicht, wahrmachen kann“, überlegt Thees Uhlmann, zum Beispiel: „Manchmal überkommt mich Angst. Und es gibt wenige Leute, die das verstehen können. Sehr wenige.“

So wird aus dem Tourbericht der zurzeit wohl bekanntesten deutschen Rockband ein Stück Bekenntnisdichtung: eine Reflexion über Freundschaft, Jugend und das Leben zwischen Köln, Berlin und Nordsee. Dabei erfährt man natürlich mehr über den Autor als über die Hamburger Band. Das wäre eitel, wenn Thees Uhlmann nicht versprechen würde, später bei seinen Kindern mit seinem Job bei Tocotronic anzugeben: „Yo Kleiner, da war Vater Backliner!“

Von Carver reden

Raymond Carver: „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Helmut Frielinghaus. Berlin Verlag, Berlin 2000. 174 S., 38 DM

„Viele Menschen behaupten, dass man eine Erzählung nicht schnell lesen kann, denn man werde so die Bedeutung nicht verstehen und den Rhythmus der Sprache nicht erkennen. Nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein.“ (Tony Buzon: „Speed Reading“)

Für den „eiligen Einzelleser“, weiß ein Literaturlexikon, wurden die ersten Kurzgeschichten in Europa und vor allem natürlich in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschrieben: als schnelle Lektüre in einer schnelllebigen Zeit. Der amerikanische Autor Raymond Carver hat short stories geschrieben, die für dieses Leseverhalten auf den ersten Blick wie gemacht zu sein scheinen, und im Herbst erschien wieder ein neu und zum ersten Mal vollständig übersetzter Band von ihm: „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“. Man wird in diesen Erzählungen kein überflüssiges Wort finden, und sie haben eigentlich genau die richtige Länge für eine mittellange U-Bahn-Fahrt oder die zehn Minuten im Bett vor dem Einschlafen.

Doch dann liest man zum Beispiel in „Sucher“ von einem Mann, dem an der Tür ein Polaroidfoto seines Hauses angeboten wird: „Zu sehen waren ein kleines Rasen-Rechteck, die Einfahrt, das Schutzdach für das Auto, die Eingangsstufen, das Erkerfenster und das Fenster.“ Ein ganz normales amerikanisches Einfamilienhaus also. Doch es ist eben das „ganz Normale“, an dem wir zugrunde gehen: „Was sollte ich mit einem Foto von dieser Tragödie anfangen?“, denkt der Erzähler, als er das Polaroid betrachtet. Über diesen Satz, der noch im ersten Drittel der Geschichte steht, kommt man nicht wirklich hinaus, da kann man ein noch so eiliger Leser sein: Mit den Geschichten von Carver wird man niemals fertig, nicht in zehn Minuten und auch nicht in zehn Tagen.

Raymond Carver hat auf diese Art ganze Romane in seine Kurzgeschichten gesteckt. Die literarische Technik, mit der er konkrete Situationen in einen unbegrenzten und für den Leser kaum zu bewältigenden Erzählraum öffnet, ist in ihrer genauen Funktionsweise allerdings schwer zu beschreiben, und die Versuchung, den 1988 verstorbenen Schriftsteller zu mystifizieren, darum umso größer. Er verschenke Carvers Bücher mit einem „bedeutungsschweren Kopfnicken“, bekennt Ingo Schulze in einem dann auch noch mit Verweisen auf seine eigenen Romane durchsetztes Vorwort des Erzählbandes. Es ist schon peinlich, wovon wir reden, wenn wir von Carver reden ...

Zeit und Sitte

Heinz Peter Schwerfel: „Kunstskandale. Über Tabu und Skandal, Verdammung und Verehrung zeitgenössischer Kunst“. DuMont, Köln 2000. 191 S., 49,90 DM

„Das menschliche Auge ist dazu bestimmt, einer Bewegung zu folgen.“ (Tony Buzan: „Speed Reading“)

Das ist doch mal ein echtes Serviceangebot: Der Bildband „Kunstskandale“ wartet mit einem Schnelldurchgang durch die anstößige Kunst des 20. Jahrhunderts auf. Baselitz, Nitsch und Haacke, alle sind sie dabei, und der Kritiker Heinz Peter Schwerfel bemüht sich dann in einem ausführlichen Darstellungsteil auch noch zu erklären, wie die Künstler „gesellschaftliche Entwicklungen vorweggenommen“ und „sittlichen Kleingeist gebranntmarkt“ haben.

Gerade weil man die meisten der Bilder schon hundertmal in Illustrierten und Publikumszeitschriften gesehen hat, wundert man sich jetzt allerdings erst einmal, wie unterschiedlich sie heute auf den Betrachter wirken. Ein Videostill, das Jeff Koons und Cicciolina beim Liebemachen zeigt, wirkt in der Rückschau zum Beispiel nicht deshalb pornografisch, weil die Geschlechtsteile der Darsteller deutlich zu sehen sind, sondern weil sich in ihren Dessous und seiner Frisur so schamlos das Zeitkolorit ihrer Epoche zur Schau stellt. Nicht der zeitlose Akt, sondern das verblasste modische Ornament wirkt obszön.

Man kann an die Achtziger eben doch noch nicht zurückdenken, ohne dabei rot zu werden. Dagegen ist die politische Kunst der westdeutschen Siebzigerjahre – allen voran die Werke von Jörg Immendorf und Markus Lüpertz – inzwischen gut abgehangen. Sie wirkt heute genauso exotisch, fremd und schön wie die Gemälde des sozialistischen Realismus. Merkwürdig nur, dass gerade die großen Maler der DDR in Schwerfels Band vollständig ausgeblendet werden. Dabei sind ihre Bilder doch eigentlich die unschuldigsten und damit interessantesten Fälle in der Chronik der Kunstskandale, weil sie erst Jahrzehnte nach Herstellung und öffentlicher Rezeption zum Stein des Anstoßes wurden. 1977 hatten zwar Baselitz und Lüpertz auf der dokumenta 6 ihre Bilder noch am Eröffnungstag wieder abhängen lassen, weil sie gemeinsam mit Sitte, Tübke, Heisig oder Mattheuer ausstellen wollten. Doch der Skandal war nur ein Skandälchen, der außerhalb des Kunstbetriebes kaum wahrgenommen wurde.

Dafür war die gesamtdeutsche Aufregung umso größer, nachdem unlängst eine Ausstellung von Willi Sitte im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg zuerst vom Verwaltungsrat verschoben und dann vom Künstler selbst abgesagt wurde.

Wörter/Minute

Tony Buzan: „Speed Reading. Schneller lesen, mehr verstehen, besser behalten.“ MVG-Verlag, Landsberg 1999. 242 S., 34 DM

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Dieser Text enthielt 1.500 Wörter. Teilen Sie diese Zahl durch die Minuten, die sie zum Lesen gebraucht haben. Das Ergebnis ist Ihre derzeitige Lesegeschwindigkeit. Der Durchschnitt liegt bei etwa 200 bis 220 Wörtern pro Minute (WpM), bei Viellesern können es auch mal 300 bis 400 WpM sein. Es sollte allerdings keine Beruhigung sein, sich innerhalb dieser Margen wiederzufinden: John Stuart Mill las bereits als junger Mensch ein Buch am Tag, John F. Kennedy schaffte 1.000 Wörter in der Minute, und der Amerikaner Sean Adam, derzeitiger Weltrekordhalter im Schnelllesen, bringt es gar auf 3.850 WpM.

Besser, Sie fangen schon mal an zu üben. Es werden schließlich immer mehr Bücher.