Türkische Demokratie auf dem Prüfstand

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt über das Verbot der türkischen Islamisten

STRASSBURG taz ■ Die türkischen Islamisten suchen ihr Recht jetzt in Straßburg. Gestern verhandelte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über die – aussichtsreiche – Klage der 1998 vom Staat aufgelösten Refah-Partei von Necmettin Erbakan.

Die Partei war 1995 bei den Parlamentswahlen mit rund 21 Prozent der Wählerstimmen zur stärksten Partei angewachsen. Daraufhin wurde Erbakan Ministerpräsident einer Koalitionsregierung. Doch noch in seiner Regierungszeit stellte Generalstaatsanwalt Vural Savas den Verbotsantrag, dem das türkische Verfassungsgericht im Januar 1998 – Erbakans Regierung war inzwischen unter dem Druck des Militärs zerbröselt – stattgab.

Vorsitzender des Verfassungsgerichts war damals der heutige Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer. Er ließ das Vermögen der Refah-Partei einziehen und erteilte drei Führungskräften der Partei, inklusive Erbakan, ein fünfjähriges Politikverbot. Begründet wurde das Parteiverbot mit angeblichen Aktivitäten zum „Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung“. Angeblich bedrohe die Partei den „säkularen“ Charakter des Staates und verfolge die Einführung der Scharia, des islamischen Rechts.

In Straßburg stützte sich die Refah-Partei vor allem auf die Vereinigungsfreiheit, die auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert ist. Laut Konvention darf der Staat die Arbeit von Parteien nur aus Gründen unterbinden, „die in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind“. Für den französischen Anwalt der Refah, Laurent Hincker, ist die türkische Verbotspraxis jedoch demokratiewidrig: „Wenn kein echter Pluralismus möglich ist, handelt es sich lediglich um eine Fassaden-Demokratie.“ Im Übrigen sei auch die Wohlfahrtspartei für einen säkularen Staat, aber sie wolle eben einen „anderen Säkularismus“. Dabei solle etwa der Schleier an öffentlichen Schulen und Universitäten nicht verboten, sondern respektiert werden.

Der türkische Vertreter, Ergun Özbudun, erklärte jedoch den praktizierten strikten Säkularismus als „Bedingung der Demokratie“ in einem islamischen Staat. Anders als das Christentum sei der Islam „nicht nur eine Religion, sondern auch ein Staatssystem“. Das Vorgehen gegen eine Partei, die immerhin ein Fünftel der Wählerschaft repräsentiert, fand Özbudun nicht unangemessen: „Gerade ihre Größe machte sie gefährlich.“

Das Urteil wird in einigen Monaten erwartet. Dabei stehen die Chancen der Refah-Klage gut. Immerhin hat Straßburg in den letzten Jahren drei türkische Parteiverbote – unter anderem gegen die kurdische Özdep – beanstandet. Das aktuelle Verfahren könnte dabei unmittelbare Auswirkungen auf die türkische Politik haben. Schließlich läuft dort bereits ein neues Verbotsverfahren gegen die Refah-Nachfolgerin Fazilet (Tugendpartei).

CHRISTIAN RATH