Kalkulierte Tragödie

Nach dem Erdbeben in El Salvador sprach die Regierung von Schicksal. Ihre Hilfe kam spät

aus San Salvador TONI KEPPELER

Am Montagnachmittag trugen Claudia Rivera und Erick Lemus ihre Angehörigen zu Grabe. Claudias Bruder, dessen Frau und das zweijährige Kind der beiden waren am Sonnabend zuvor um 11.34 Uhr im Stadtviertel Las Colinas in Santa Tecla von einem riesigen Erdrutsch verschüttet worden. Erick und Claudia haben sie einen Tag später selbst ausgegraben. Mit einer Schaufel, einer Hacke, zum Teil mit bloßen Händen.

Eineinhalb Stunden nach dem großen Erdrutsch waren sie dort hingeeilt, wo einmal das Haus von Claudias Bruder gestanden hatte. „Zuerst fanden wir nur das verbogene Bettgestell der Kleinen“, sagt Erick. Beim Graben stießen sie immer wieder auf Leichen von Nachbarn. „Die meisten waren verstümmelt. Das nimmt dir allen Mut.“ Erst am Sonntagvormittag stießen sie auf die Körper, nach denen sie die ganze Nacht gesucht hatten. Erst die Schwägerin, dann den Bruder von Claudia, schließlich das Kind. Die Leichen kamen nicht, wie so viele aus Las Colinas, in ein anonymes Massengrab. Sie bekamen ein ordentliches Begräbnis. Erick und Claudia verbrachten eine Nacht bei der Totenwache. Dann eine Messe und die Beisetzung auf dem Friedhof. Solche Trauer-Riten geben Halt in dem Chaos aus Schmerz, Anklage und Fragen. Erick, der 32-jährige Journalist, spricht von „kaltherzigen Behörden“ und einem „offensichtlichen Verbrechen“. Das Wort „Naturkatastrophe“ verwendet er nicht.

Stille nach dem Beben

In den Agenturmeldungen über das Erdbeben in El Salvador, die seit dem vergangenen Samstag verbreitet werden, taucht das Wort „Naturkatastrophe“ in beinahe jedem Absatz auf. 7,6 auf der Richter-Skala ... mehr als 40 Sekunden lang ... stärker als das Beben von 1986, bei dem das Zentrum der Hauptstadt San Salvador zerstört worden und rund 1.500 Menschen zu Tode gekommen waren. Doch in Las Colinas sieht es nicht aus wie nach einem Erdbeben: Auf 400 Meter Länge ist die nahe Hügelkette, die Cordillera del Bálsamo, abgebrochen und hat das darunter liegende Neubauviertel unter sich begraben. Eine Schneise aus Erde, Geröll und entwurzelten Bäumen schiebt sich tief ins Wohngebiet. Links und rechts davon stehen Reihenhäuser, völlig intakt. Rund 600 Tote sind inzwischen geborgen. Man vermutet unter den Erdmassen mindestens weitere 500 Menschen. Die ausgegrabenen Überlebenden lassen sich bislang an zwei Händen abzählen.

Nach der Katastrophe wurde es erst einmal ganz still. Es gab keinen Strom, kein Radio, kein Fernsehen. Erst nach einer Stunde ging die erste Radiostation wieder auf Sendung und meldete das Beben. Auch den Erdrutsch in Las Colinas. Erick und Claudia waren unter den Ersten, die dort eintrafen. Im Laufe des Nachmittags wurden es immer mehr. Etwa 2.000 Angehörige von Verschütteten oder einfach Menschen, die helfen wollten, gruben nach Überlebenden, viele mit den bloßen Händen. Präsident Francisco Flores rief den nationalen Notstand aus. „Erst am Nachmittag kamen die ersten Polizisten. Einige halfen beim Graben. Aber die meisten waren damit beschäftigt, alles abzusperren.“

Um sechs Uhr wird es in El Salvador dunkel. Im Schein von Taschenlampen gruben die Helfer weiter. Erst um acht kam die Armee und brachte Dieselgeneratoren und Scheinwerfer. Kurz vor Mitternacht trafen die ersten Bagger und Planierraupen ein. Da hatte Erick schon das Eisengestell vom Bett seiner Nichte gefunden. Erst am nächsten Vormittag fanden Erick und Claudia ihre Toten.

Am Nachmittag dieses Tages kam Präsident Flores zum Ort der Katastrophe. Die regierungsfreundlichen Zeitungen erwähnten das nicht. Sie hätten schreiben müssen, dass Flores schnell wieder abfuhr, weil ihn die Menschen beschimpften und mit Steinen bewarfen. Es war nicht so sehr die mangelnde Unterstützung, die die Leute in Las Colinas erboste. Es war das Geschwätz von der „Naturkatastrophe“, von „Schicksal“. Denn die Bewohner hatten schon lange gewarnt: Der Berg wird irgendwann herunterbrechen. Zu viel und zu ungeplant wurde dort gebaut. Bis zum Tag der Katastrophe. Die Sorge der Anwohner war nicht einmal so sehr ein Erdbeben – der Ort galt als erdbebensicher. Sie fürchteten eher, dass ein Wirbelsturm und die ihn begleitenden Regenfälle einen Erdrutsch auslösen könnte.

Ein noch eleganteres Las Colinas sollte es werden. Bauherr war die Firma von Ricardo Posada, im Vorjahr Wahlkampfchef des Regierungskandidaten für das Amt des Hauptstadtbürgermeisters. Noch weiter oben baute die Firma des ehemaligen Wohnungsbauministers Hans Bodewig. Die Bewohner von Las Colinas hatten sich Monate lang gegen die Bauvorhaben gewehrt. Sie organisierten Demonstrationen, und das von der ehemaligen Guerilla der FMLN geführte Bürgermeisteramt von Santa Tecla hatte mit Klagen 17 Siedlungsprojekte in der Cordillera del Bálsamo gestoppt. Doch an den Baulöwen Bodewig und Posada war man vor Gericht gescheitert.

Frage nach Schuld

Vom Bürgermeisteramt Las Colinas steht nur noch die Fassade. Bürgermeister Ortiz hat sein Büro ins cafetalón verlegt. Der ehemalige Umschlagplatz für Kaffee und heutige Park dient jetzt als Auffanglager für 5.000 Obdachlose. Zelte wurden aufgestellt, Kleider- und Lebensmittelspenden werden sortiert und verteilt. Neun Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs funktioniert die Kommandostruktur der FMLN noch immer reibungslos.

Präsident Flores ist seit seinem peinlichen Auftritt in Las Colinas abgetaucht. Und Mauricio Ferrer, der Direktor des Nationalen Notstandskomitees, redet nur vage von einer „fürchterlichen Tragödie“ und „vielleicht mehr als 4.000 Toten“.

In vierzehn Tagen, glaubt Bürgermeister Ortiz, ist die schlimmste Not überwunden. „Dann müssen wir über die politische Verantwortung sprechen.“ Über das Versagen der Regierung in den Tagen nach dem Beben genauso wie über die höchstrichterlich gedeckte ungezügelte Bauwut. Erick Lemus ist das nicht genug. Ihm geht es nicht nur um politische, es geht ihm um strafrechtliche Verantwortung. „Der Erdrutsch von Las Colinas war vermeidbar“, sagt er. „Das war keine Naturkatastrophe. Das war ein Verbrechen.“