Nur noch Geschichte

Vor 300 Jahren krönte sich Friedrich III. zum ersten preußischen König. Er und seine Nachfolger haben ihren Staat modernisiert und militarisiert – aber nie demokratisiert

Der Handschlag zwischen Hindenburg und Hitler in Potsdam war kein Betriebsunfall der Geschichte

Die Zwitterhaftigkeit Preußens ist zum Gemeinplatz geworden. Einerseits wird an das Preußen der Toleranz und der Aufklärung erinnert, das verfolgte Minderheiten willkommen hieß, arkadische Gartenlandschaften entstehen ließ und zur Heimat einer weltweit ausstrahlenden Universitätsreform wurde. Andererseits bleibt Preußen als Land der Junker, des Obrigkeitsstaats und des Militarismus im Gedächtnis, das 1947 nicht ohne historische Berechtigung aufgelöst wurde. Wie ein Phönix aus dem märkischen Sand stieg Preußen hervor, nachdem es von Napoleon fast ausgelöscht worden war, dank seiner Disziplin und intellektuellen Kraft. Doch dasselbe Preußen eroberte Deutschland und führte es weg vom westlichen Europa, in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts hinein. Die Geschichte ist komplex, einlinige Urteile verbieten sich, Preußen erscheint uns als faszinierende Mischung sich bedingender Gegensätze, darin liegt sein Größe.

Falsch ist das nicht. Aber es kommt darauf an, diese Einsicht zu historisieren. Was lange die Kraft Preußens ausmachte, wurde später zu seiner Schwäche. Das Lob Preußens pervertierte zum Mythos, als seine reale Existenz problematisch geworden war. Preußens Zeit war längst abgelaufen, bevor es in den Trümmern versank, die es mit herbeigeführt hatte. Preußen war lange als Staat sehr modern. Als es darum ging, die Moderne aus gesellschaftlicher Dynamik zu schaffen, fiel es dagegen zurück. Es bietet wenig, woran heute anzuknüpfen wäre.

Die erste Königskrönung von 1701, die jetzt als Gründungsakt gefeiert wird, besitzt ihre Bedeutung als symbolischer Akt und als Fixierung des überregionalen Anspruchs Preußens. Seitdem trug der Staat diesen Namen. Doch der Anfang war das nicht. Wer nach den Ursprüngen späterer Größe fragt, muss weiter zurückblicken.

Schon bald nach 1600 erwarb das kleine Brandenburg Besitztümer weit im Westen und weit im Osten: Mark, Cleve und Ravensberg, das Herzogtum Preußen. Damit entstand die extrem zersplitterte Territorialgestalt, die fast notwendig auf Arrondierung drängte und eine Dynamik der Expansion durch Erbfolgen und Kriege auf Dauer stellte, aus der das Land am Ende als europäische Großmacht hervorging. 1613 konvertierte das Herrscherhaus zum Calvinismus, während die Bevölkerung mehrheitlich lutherisch blieb. Daraus entstand eine Politik der konfessionellen Toleranz, die es Brandenburg erleichterte, zum Einwandererland und damit stark zu werden. Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, begann nicht nur mit dem Ausbau von Armee und Verwaltung, den späteren Säulen preußischer Macht. Er lud auch die in Frankreich verfolgten Hugenotten ein. Um 1700 war jeder dritte Berliner ein Franzose. Preußens Größe entstand durch Staatskunst von oben.

Dass dies gelang, ist ein kleines Wunder. Preußen erschuf sich selbst, unter ungünstigsten Bedingungen, in ständig wechselnder Gestalt, ohne viel Tradition. Der Boden war karg, die Bevölkerung dünn, die Wirtschaft rückständig, das Territorium zersplittert. Der Staat stand bisweilen dem Untergang nahe, so im Siebenjährigen Krieg und gegen Napoleon. Er überlebte dank seiner Fähigkeit, aus der tiefsten Krise neue Kraft zu schöpfen. Eine „ungewöhnliche Entwicklung der inneren Hilfsquellen und eine zugleich kräftige und vorsichtige Leitung der auswärtigen Geschäfte“ sah Ranke als Ursachen. Und Bismarck dozierte: „Preußen ist keineswegs durch Liberalismus und Freigeisterei groß geworden, sondern durch eine Reihe von kräftigen, entschlossenen und weisen Regenten, welche die militärischen und finanziellen Kräfte des Staates sorgfältig pflegten und schonten, sie aber auch in eigner, selbstherrschender Hand zusammenhielten, um sie mit rücksichtslosem Muthe in die Wagschale der europäischen Politik zu werfen, sobald sich ein günstiger Moment dazu darbot.“

So rückständig die Sozialstruktur in den Kernlanden war – Gutsherrschaft, wenig Städte, ein schwaches Bürgertum –, so sehr gelang es den Regierenden, die sozialen Kräfte zu bündeln und für den Staat zu vereinnahmen: Adlige als Offiziere, Bürger als Beamte und die breite Masse als disziplinierte Untertanen. Dieser Staat war nicht reaktionär. Vielmehr verbündete er sich mit den jeweils fortschrittlichsten Kräften der Zeit: im 17. Jahrhundert als Prototyp des protestantischen Fürstenstaats gegen das fortwirkende katholische Mittelalter und das letztlich nicht zukunftsfähige Alte Reich; im 18. Jahrhundert als „rauher Vernunftstaat“ (Haffner) mit Aufklärung und beginnender Rechtsstaatlichkeit; im 19. Jahrhundert mit Bildung und Wissenschaft. Mit Glück verleibte sich Preußen 1815 das Rheinland und Westfalen ein. Die Staatsmänner des Wiener Kongresses verkannten die ökonomische Bedeutung dieser Region, die Preußen in späteren Jahren voll an der Industrialisierung teilnehmen ließ und es auch wirtschaftlich zur Vormacht in Deutschland machte. Nach Niederschlagung der Revolution von 1848/49 schreckte das gouvernementale Preußen nicht einmal vorm Flirt mit dem Liberalismus zurück. Preußen wurde zur großen Hoffnung der Liberalen, mit deren Hilfe Bismarck das Reich in drei Kriegen errichtete, bevor er sie abservierte und nachhaltig schwächte.

Das war eine europäische Erfolgsgeschichte sondergleichen, Modernisierung von oben, unter der Regie und mit der Dynamik eines monarchisch-bürokratischen Staats. Preußen gewann nicht nur Macht, es gewann auch die Zustimmung vieler Menschen, hielt ein schnell wachsendes Territorium mit 1660 1,5 und 1880 25 Millionen zusammen und holte außerordentliche Personen an seine Spitze: Ausländer wie den Reichsfreiherrn vom Stein, radikale Konservative wie Bismarck und am Ende Sozialdemokraten wie Otto Braun, unter dessen Führung Preußen bis 1932 eine Bastion der Republik gegen den anbrandenden Nationalsozialismus blieb. Doch auch die Grenzen und Kosten dieser Modernisierung von oben waren deutlich, vor allem nach 1870, als Preußen Deutschland eroberte, prägte und in ihm aufzugehen begann.

Schon den Zeitgenossen stach die militärische Prägung des Staates ins Auge. Mirabeau soll es gesagt haben: „Andere Staaten besitzen eine Armee. Preußen ist eine Armee, die einen Staat besitzt.“ Als Max Weber die soziale Militarisierung der Deutschen beklagte, hatte er Preußen, nicht den Süden im Blick. „Zivilist“ hatte in Preußen einen abschätzigen Klang. Während Kant noch positiv von „Zivilgesellschaft“ schrieb, handelte Hegel von der „bürgerlichen Gesellschaft“ und ordnete sie entschieden dem Staate unter. Ideologische Staatsgläubigkeit entsprach der Macht des gängelnden Beamtenstaats, bis weit in die preußische Linke hinein.

In einer zunehmend industrialisierten, urbanisierten und verbürgerlichten Welt kam es immer mehr auf freie gesellschaftliche Dynamik an, die das preußische Modell von oben aber nicht freisetzte, sondern starr zu reglementieren versuchte – wodurch es sich übernahm.

Die Politik der konfessionellen Toleranz half Brandenburg, zum Einwanderungsland zu werden

Im Namen des monarchisch-bürokratischen Staats entzog sich Preußen der anstehenden Parlamentarisierung. Damit blockierte es für ganz Deutschland den Weg zu jener Verfassung, der in Europa die Zukunft gehörte. Zäh und stur verteidigten die preußischen Konservativen noch 1918 das Dreiklassenwahlrecht, das ein paar hundert Reichen ebenso viel Stimmgewicht gab wie vielen tausenden Arbeitern, und das nach den „demokratisierenden“ Blutopfern des Kriegs. Immer bornierter wurde die Interessenpolitik der ostelbischen Junker, über die selbst der milde Fontane hinwegzugehen empfahl. Die Selbsterneuerungsfähigkeit preußischer Eliten versandete. Ihr Konservatismus trat scharf hervor und verband sich mit dem populären Nationalismus der neuen Zeit, der in die Kriege des 20. Jahrhunderts führte. Später verbluteten die besten Teile der preußischen Eliten im vergeblichen Widerstand gegen Hitler. Doch der Handschlag zwischen Hindenburg und Hitler, die symbolische Vermählung alter preußischer Größe und junger nationalsozialistischer Kraft am Sarge Friedrichs des Großen in der Garnisonskirche von Potsdam, war 1933 kein bloßer Betriebsunfall.

Erst der Bundesrepublik ist es gelungen, eine leistungskräftige Bürgergesellschaft zu etablieren und sie in einer stabilen parlamentarischen Demokratie westlichen Musters zu verankern. Das preußische Modell blieb dabei in weiter Distanz. Auch nach der Wiederherstellung des deutschen Nationalstaats und der Rückkehr der Zentrale in die frühere preußische Hauptstadt besteht keine Möglichkeit und kein Grund, dies zu revidieren.

JÜRGEN KOCKA