Kein Hongkong im Baltikum

Russlands Exklave Kaliningrad wird nicht zu einer Freihandelszone werden. Denn Brüssel fürchtet politischen Streit mit Moskau

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Die EU-Kommission macht sich Sorgen um Kaliningrad, besser gesagt um Kaliningrads Lage in der künftigen erweiterten Union. Nach dem Beitritt von Polen und Litauen wird die russische Exklave, die so groß ist wie Schleswig-Holstein, durch einen Riegel von Schengen-Staaten vom russischen Kernland getrennt sein. Das klingt ungemütlich – und ist es auch. Ein neues Westberlin wird entstehen, unter umgekehrten Bedingungen: eine arme Stadt, umgeben von immer reicher werdenden EU-Staaten.

Was die EU-Kommission in einem gestern beschlossenen Strategiepapier als ökonomische Chance für die Region verkaufen will, bedeutet für die Menschen zunächst eine weitere Einschränkung ihrer Lebensqualität: Ohne Visum wird niemand mehr die Exklave verlassen können. Die Energieversorgung aus Russland via Litauen wird in Frage gestellt. Denn Litauen will sich künftig aus dem mitteleuropäischen Elektrizitätsnetz versorgen lassen.

Natürlich ist es kein Zufall, dass der Norden Europas gerade mit Beginn der schwedischen Präsidentschaft näher ins Blickfeld der EU-Politik rückt. Schon aus geografischen Gründen fühlen sich Schweden und Finnland dem Baltikum verbunden. „In dieser russischen Enklave leben 800.000 Menschen. In einer schwer verschmutzten, ökologisch verseuchten Region, belastet mit hohen Aidsraten, Tuberkulose und anderen Krankheiten. Alles das haben wir dann mitten in Europa“, warnte der schwedische Premier Göran Persson in einem Zeitungsinterview. Kaliningrad solle Europas Brücke zu Russland werden, fügte er pflichtschuldig hinzu.

Durch ihre kuriose Lage schärft die Exklave den Blick für Probleme, die nach der Verschiebung der Schengen-Grenzen nach Osten auch für andere Länder, zum Beispiel die Ukraine, akut werden. Polen pflegt zu diesen Gebieten enge Handelsbeziehungen. Problemlos wandern bislang Waren und Personen über die Grenzen. Wenn Polen wie angekündigt noch dieses Jahr die EU-Regelungen übernimmt, ist es damit vorbei.

Einige Projekte, die von der EU-Kommission im Rahmen des Tacis-Programms für Kaliningrad geplant sind, dienen eher der Abschottung als dem Brückenschlag. So sollen 2002 zwei Grenzübergänge nach Litauen und Polen mit EU-Mitteln modernisiert werden. Dass dadurch vor allem modernste technische Überwachungssysteme finanziert werden, lässt der Sprecher von Kommissar Patten bei der Präsentation der Projekte lieber unerwähnt.

Auch die Vorschläge der Kommission zur Erleichterung des Visaverkehrs sind nicht so uneigennützig, wie sie klingen. Während Kaliningrader bislang mit dem Personalausweis durch die Nachbarländer reisen konnten, werden sie künftig für Polen und Litauen einen gültigen Pass und ein Visum brauchen. „Sowohl die neuen als auch die alten Mitgliedsstaaten könnten die Einrichtung von Konsulaten im Kaliningrader Gebiet in Erwägung ziehen, um die Ausstellung von Visa zu erleichtern und die Migrationsbewegungen effizient zu kontrollieren“, empfiehlt die EU-Kommission in ihrem Strategiepapier.

Echte Vorteile könnte die Region dagegen aus den sinkenden Zollsätzen ziehen. Derzeit erheben Litauen und Polen 5,3 Prozent Zoll auf russische Importe, Sobald sie zur EU gehören, müssen sie gegenüber Russland und Kaliningrad die EU-Meistbegünstigungsklausel anweden. Der Zollsatz für gewerbliche Waren sinkt dann auf 4,1 Prozent. Daher hält die EU den einst geplanten Sonderweg Kaliningrads als Freihandelszone oder Zollunion für überflüssig, Der Hauptgrund dafür, die Pläne einer marktwirtschaftlichen Versuchszone zu begraben, dürfte aber politischer Natur sein. Reibereien mit Moskau seien dann vorprogrammiert, da es dem Gebiet wohl nicht die nötige politische Autonomie einräumen werde.

Aus der Traum von einem neuen Hongkong im Baltikum. Von der Erfahrung Chris Pattens als Gouverneur von Asiens Boom-Town werden die Bürger Kalinigrads nicht profitieren können.