Glücklich mit den alten Meistern

Jazz im Zeitalter seiner digitalen Reproduzierbarkeit: Der Münchner Michael Reinboth hat dem Trend zum Downbeat in Deutschland die Tür geöffnet. Sein expandierendes „Compost“-Label bietet ein Forum für DJs und Remixer, die an der Fortführung des Dancefloor-Jazz mit anderen Mitteln arbeiten

von MAXIMILIAN DAX

Seit dem Siegeszug der digitalen Technik in den Neunzigerjahren hat sich das Selbstbild des Musikers grundlegend geändert. Tradierte Produktionsweisen wurden spätestens zu dem Zeitpunkt über Bord geworfen, als der Sampler und Kompositionssoftware wie Cubase von Musikern (fast) aller Stilrichtungen nicht bloß als Werkzeug, sondern auch als Ausdrucksmittel entdeckt wurde. Man muss kein Virtuose mehr sein, man muss nicht einmal mehr ein Instrumentalist sein, um heute Musik aufnehmen zu können. Im Jazz hat diese Entwicklung eine nicht unerhebliche Sinnkrise hervorgerufen: Unzählige Jazzmusiker, etliche von ihnen kamen aus der Jazzschule von Berkeley, bezogen ihr Selbstbewusstein aus dem Umstand, dass sie ihr Instrument perfekt beherrschten. Unterdessen hat eine neue Generation von DJs den Jazz als Treibstoff für eine progressive, gleichwohl geschichtsverbundene Experimentierhaltung entdeckt. „Know your roots“ hat der britische Drum’n’Bass-Pionier Roni Size 1999 die Formel beschrieben, nach der es gälte, heute Musik zu machen – wenn man schon über Computerprogramme oder das Plattendrehen zum Musiker geworden ist und nicht über eine klassische Ausbildung, dann ist der Bezug zu musikalischen Wurzeln unabdinglich.

Als Michael Reinboth 1992 in München sein Schallplattenlabel „Compost Records“ gründete, das sich die Suche nach dem Jazz in der Clubmusik zum Ziel setzen sollte, hatte er bereits eine lange Karriere als Musikjournalist und DJ hinter sich, und seine Wurzeln weitgehend erforscht. Als Kolumnist für Dancefloor im Werbemagazin der Musikladenkette WOM hatte Reinboth keinen Anspruch auf journalistische Höhenflüge, aber dafür Zugang zu fast allen Veröffentlichungen, die für Club-DJs produziert wurden. Als DJ hatte der Labelgründer, der in seinen Sets Stilvielfalt predigte und praktizierte, es seit jeher abgelehnt, abendelang nur House, nur Techno oder nur HipHop aufzulegen.

Dogmen des Dancefloors

Reinboths Abende, aber auch die seiner heute viel bekannteren DJ-Weggefährten wie dem Frankfurter Shantel oder den Wienern Kruder & Dorfmeister, waren früh von Respekt vor jahrzehntealter Musik und zugleich Mut zum Neuen geprägt, dabei aber immer dem Diktat der Tanzbarkeit verpflichtet. Wie selbstverständlich wurden Bossa-nova-Stücke, jamaikanischer Dub und früher TripHop zu Stimmungen verdichtet, die keiner expliziten Kategorisierung mehr entsprachen, eher einer Art Freestyle. „Die Musik war Rare Groove. Jazzig angehauchte Clubmusik, die aber nicht Retro wie Acid Jazz, sondern moderner und neu war. Jazzige Clubmusik, die sehr wohl und wie selbstverständlich Techno- und House- und HipHop-Elemente besaß“, erinnert sich Reinboth an seine Nächte als DJ: „Mit der Monotonie und Härte der letztgenannten Stilrichtungen aber hatte der Vibe dieser Veranstaltungen oder Partys wenig zu tun. Wir hatten einfach festgestellt, dass es immer schon interessante Platten aus aller Herren Länder, aus den komischsten Ecken der Welt gab, die man prima mit jetztzeitlichen Beats kombinieren konnte. Aber bevor wir damit anfingen, gab es in Deutschland keine Plattform für diese Art von Musik.“

Projekte wie das Berliner DJ-Team Jazzanova um Jürgen von Knoblauch, Alexander Barck und Claas Brieler oder das Trüby Trio aus Freiburg, vor allem aber die beiden erfolgreichen Compilation-Reihen „Future Sounds of Jazz“ und „Glücklich“, von der bis heute sieben bzw. drei Folgen auf CD und Vinyl erschienen sind, haben das Profil des Compost-Labels entscheidend geprägt. In diesen Monaten steuert Compost die einhundertste Veröffentlichung an, und mit dem Unterlabel JCR (Jazzanova Compost Records) wurde unlängst der wegweisende Schritt unternommen, ein Team von Remixern, das dem Label ohnehin nahe stand, als Talentscouts und Künstler unter eigenem Namen an sich zu binden.

Musiker wie Rainer Trüby gehören zu einer Generation von Jazzinteressierten, die wie selbstverständlich mit Techno, HipHop, House und Drum’n’Bass aufgewachsen ist – und gleichzeitig zu einem guten Joint so unterschiedliche Grooves wie die von Antonio Carlos Jobim (Brasilien), Lee Scratch Perry (Jamaika) oder „In A Silent Way“ von Miles Davis zu schätzen weiß. Und Michael Reinboth weiß, wie entspannt es in den Künstlerbereichen direkt hinter den Plattenspielern zugeht – ob der Club nun Mandarin (München), Mojo (Hamburg), WMF (Berlin) oder Lissania (Frankfurt) heißt: „Viele Leute haben in den Neunzigerjahren erkannt, dass man sein Leben auch dann als Musiker leben kann, wenn man sich wegbewegt von den Dogmen des Dancefloors und alte Meister aufgreift, die man dann auf moderne Stücke prallen lässt – einfach kombinieren, was gefällt. Kruder & Dorfmeister haben mit ihrem großen Erfolg bewiesen, dass der Downbeat – dieses langsame, basslastige Groovebewusstsein – tendenziell auf offenen Ohren trifft.“

Die mitunter hohe Qualität der Veröffentlichungen im Bereich Downbeat, Abstrakt Elektro und Drum’n’Bass wird immer wieder als Fortführung des Jazz mit anderen Mitteln bezeichnet. Ausgestattet „nur“ mit den Schallplatten, die ihr Gedächtnis sind, und Computerkenntnissen, die ihnen die komplexe Kompositionssoftware untertan machen, ist das Interesse der DJs und Produzenten an den Meistern des Jazz derzeit groß wie nie in den letzten zwanzig Jahren.

Richard Dorfmeister bekennt dazu: „ ,Pangaea‘ und ,Agharta‘ von Miles Davis, beide aufgenommen an einem einzigen Tag, bevor sich Davis für Jahre aus der Musik und in den Heroinrausch verabschiedete, waren für mich Offenbarungen. So dichte, so drogenverseuchte und zugleich so virtuose Musik hatte ich zuvor noch nicht gehört.“ Anders als in Techno, HipHop, House und teilweise sogar Drum’n’Bass, wo nicht selten Selbstreferenz vorherrscht, um nicht als unspielbar zu gelten und sich somit den Weg in die Selections der DJs zu versperren, sind die Roots des Downbeat weit gefächert, und sie reichen weit zurück.

Computer im Nachtclub

Klassiker wie Antonio Carlos Jobims Alben „Tide“ und „Wave“, Bernard Hermanns puffjazziger Soundtrack zum Film „Taxi Driver“, die Musik Ennio Morricones und Miles Davis’ – letztlich sind es Kompositionen für Nachtclubs, die das Rückgrat der meisten Downbeat-Sets darstellen. Am Computer lassen sich gezielt Stimmungen, Patterns und Kompositionselemente nachstellen und nach den Gesetzmäßigkeiten des Dancefloor perfektionieren. Michael Reinboth geht sogar noch weiter: „Die technischen Möglichkeiten geben uns heute die Möglichkeit, Jazz, und sei er auch noch so wirr, vertrackt und mit noch so vielen Solos versehen, als quasi Ein-Mann-Band im Studio zu produzieren, so dass es klingt, als wäre ein ganzes Orchester am Werk gewesen – als handelte es sich um ein echtes, live eingespieltes Jazzstück. Das ist doch das Interessante: Projektnamen wie ‚The Cinematic Orchestra‘ oder Peter Kruders ‚Peace Orchestra‘ führen in die Irre, denn tatsächlich bestehen diese ‚Orchester‘ meist nur aus einer Person. Dieses Konzept ist erst durch die Technik ermöglicht worden – oder besser gesagt durch die Kombination von Technik und einem tief greifenden Interesse an der Musik: Also Sampler, Sequencer, Beatboxes, Live-Elemente und Computerprogramme, gepaart mit einer weltoffenen, geschichtsbewussten Haltung.“

Eine solche Haltung steht natürlich krass im Gegensatz zur Live Jazz Band, die zusammenkommt, jammt und unwiderruflich ein Stück Musik für die Ewigkeit einspielt, das immer so bleiben wird, wie es gespielt wurde. „Es ist heute praktisch möglich geworden, dass ein Mensch ganz alleine so etwas Hochkomplexes aufnehmen kann wie ‚Bitches Brew‘ von Miles Davis“, meint Reinboth. Solch virtuelle Virtuosität entfaltet sich allerdings weitgehend jenseits der Welt des etablierten Jazz: „Im Moment haben wir die Situation, dass der klassische Jazz-Markt, wenn man einmal von den tatsächlich klassischen Aufnahmen absieht, immer marginaler wird. Fakt ist ja auch, dass der klassische Jazzmarkt nur noch in der Form, wie wir ihn kennen, existieren kann, weil er staatlich bezuschusst wird. Keiner dieser Jazzer könnte mehr von seiner Musik leben, wenn es nicht diese Festivals gäbe, die zu neunzig Prozent von den Gemeinden, den Städten oder den Ländern bezuschusst werden. Das war schon so, als Miles Davis seine letzten Konzerte in Europa gegeben hatte: Sein Auftritt in München war so teuer, dass der Veranstalter niemals allein aufgrund der Eintrittsgelder die Gage plus Nebenkosten wieder reinbekommen hätte – das musste von der Stadt subventioniert werden. Eine subventionierte Musik wird aber irgendwann ad acta gelegt. Das ist genauso, wie man irgendwann die Steinkohle aufgeben wird, die seit 30 bis 40 Jahren vom Staat subventioniert wird. Kohle will keiner mehr. Wir heizen schließlich alle mit Zentralheizungen.“

Einen geradezu exzellenten Überblick über moderne Jazzbeats in etlichen seiner Spielarten bietet derzeit die unlängst erschienene 5-Vinyl-Box (2 CDs) „Jazzanova – The Remixes 1997–2000“. Wie bei allen Veröffentlichungen aus dem Hause Compost muss aber bedacht werden, dass die Reihung von insgesamt 20 Neubearbeitungen ursprünglich von anderen Musikern und Projekten stammte und die Tracks in erster Linie als Werkzeug für DJs gedacht waren. Den Schritt, den beispielsweise Kruder & Dorfmeister gegangen sind, nämlich ihre Remixes auf CD zu einer Homelistening-Version zurechtzumixen und auf Vinyl unangetastet zu lassen, wollte man bei Jazzanova Compost Records nicht gehen. Den Satz von Roni Size, wonach man seinen Vorbildern Respekt durch Kenntnis ihrer Werke entgegenbringen muss, um fortan sicheren Schrittes produzieren und programmieren zu können, haben Jazzanova und das assoziierte Produzententeam um Stefan Leisering, Axel Reinemer und Rowsko Kretschmann dennoch verinnerlicht: Mit ihren nie ausschmückenden, immer pointierten Dub-, Bebop und Ethno-Momenten sind die Jazzanova-Remixes von Ian Pooley, Karma oder der Har-You Percussion Group wegweisende Etüden in Sachen Clubmusik.