Das organisierte Vergessen

Erstmals wird in Frankreich öffentlich über die Folterungen des Militärs im Algerienkrieg diskutiert. Ausgelöst hat die Debatte der kommunistische Journalist Henri Alleg, vor vierzig Jahren selbst Opfer der Folter. Ein Portrait des Autor des Buches „La Question“

von DOROTHEA HAHN

Vier Jahrzehnte danach spricht Henri Alleg immer noch im Präsens. Beschreibt, wie der alte Moslem in seiner Nachbarzelle mit schwächer werdender Stimme Vive la France! schreit und doch weiter geschlagen wird. Wie die vergewaltigte junge Algerierin, die sich schwanger glaubt, nichts sehnlicher erhofft als ihren Tod. Wie die französischen Soldaten Bier trinken und lachen, während sie ihm elektrische Stöße in den Körper jagen. Wie die französischen Militärs aus dem Folterzentrum nach Kriegsende befördert und dekoriert werden. Und wie alle Regierungen in Paris, die heutige eingeschlossen, „das Vergessen organisieren“.

Der 79-jährige Henri Alleg, der mit seiner Frau Gilberte in dem gepflegten Einfamilienhaus in der südlichen Pariser Vorstadt lebt, sieht nicht aus wie ein dur, ein Harter, der einer übermächtigen Armee wie der französischen Widerstand leistet. Alleg ist ein freundlicher kleiner Mann, der sich auf die Geburt seines ersten Urenkels freut und der wie ein Jüngling um das Auto springt, um einer Frau die Beifahrertüre aufzureißen.

Aber wenn er vor Schulklassen tritt oder vor Journalisten, wie häufig in diesen Wochen, ist Alleg ganz der alte Kämpfer. Hebt die Stimme. Zürnt gegen die Mächtigen. Und agitiert gegen die Folter und den Kolonialismus, wie auf dem Höhepunkt des Algerienkriegs. 39 Jahre nach dem Vertrag von Evian, in dem Frankreich sich aus der Kolonie zurückzog, ist für ihn die Nachkriegszeit „immer noch nicht ganz vorbei“. Denn immer noch wird die systematische Folter als „bedauerliche Ausnahme“ beschrieben. Immer noch ist sie nicht „Teil der kollektiven französischen Geschichte“, wie Alleg verlangt.

Der junge, aus Paris eingeflogene französische Kommunist war Chefredakteur des Alger Républicain. Die größte Zeitung in der Kolonie war seit Kriegsbeginn verboten. Zu antifranzösisch. Zu antikolonial. Für seine Landsleute in der Uniform der französischen Republik war Alleg ein „Verräter“, ein „Terrorist“. Für ihn sind die Militärs bis heute die eigentlichen Kriminellen geblieben. Auch wenn die Generäle hohe Orden tragen und in Frankreich Straßen nach ihnen benannt sind.

Als Alleg im Juni 1957 in eine Falle geht, ist er für die Militärs ein „exzellenter Fang“. Einen Monat lang traktieren sie ihn zu der immer gleichen Frage „Wer hat dich beherbergt?“ mit immer neuen Foltermethoden. Jagen ihm elektrische Stöße und Schläge in Mund und Geschlechtsteil, verbrennen seine Brust und seine Fußsohlen, spritzen ihm das Betäubungsmittel Pentothal in die Venen und schlagen ihn bewusstlos. „Du bist geliefert“, sagen sie.

Nur wenige Mitgefangene verlassen den Rohbau am Stadtrand von Algier, der Tag und Nacht von Schreien widerhallt, lebend. Selbst ihre Leichen verschwinden. Für die „Liquidierung“ sorgt eine französische Todesschwadron. Sie stürzt Menschen aus Hubschraubern ins Meer und gießt andere in Zementblöcke ein. Alleg überlebt das Folterzentrum. „Dank meiner Frau Gilberte“, sagt er. Gilberte hat zusammen mit den Spitzen des französischen Kriegswiderstands in Paris eine gewaltige Kampagne organisiert.

Wochen später, als Alleg in dem offiziellen Gefängnis von Algier „Barberousse“ sitzt, revanchiert er sich mit einem heimlich verfassten Bericht, der den Foltergegnern seither als gedruckte Waffe dient. Trocken, in beinahe technischem Stil, beschreibt Alleg, was die Militärs mit ihm gemacht haben. Es wird das Meisterwerk des Jounalisten, der später noch viele Bücher veröffentlicht. Mitgefangene schmuggeln die Seiten nach draußen.

„La Question“ („Die Frage“) ist die detaillierteste und härteste Beschreibung der Folter, die es über den Algerienkrieg gibt. Ein in dreißig Sprachen veröffentlichter Bestseller. In Frankreich wird „La Question“ sofort verboten. Die Zeitung Libération, die Ausschnitte veröffentlicht, wird beschlagnahmt. Noch Jahre später verhindern randalierende Rechtsextreme, dass die Verfilmung in die Kinos kommt. Bis Kriegsende zirkuliert das Buch in Frankreich unter der Hand. In Deutschland erscheint es 1958 zweimal – beim Aufbau Verlag in der DDR, und beim Desch Verlag, München, mit einem Geleitwort von Jean-Paul Sartre und Eugen Kogon. Inzwischen sind beide Ausgaben vergriffen.

„Das war eine Phase in meinem Leben“, sagt Alleg heute. Als wäre sie abgeschlossen. Dabei hat er im vergangenen Jahr wieder alle möglichen Hebel in Bewegung gesetzt, um der historischen Wahrheit näher zu kommen. Wenige Monate nachdem die Zeitung Le Monde den Bericht der Algerierin Luisette Ighilariz über ihre eigene, vier Jahrzehnte zurückliegende Folter veröffentlichte, erschien am 31. Oktober in L’Humanité der „Aufruf der zwölf“.

Darin verlangt der Kommunist Alleg zusammen mit einer Gaullistin, mit einer Generalswitwe, mit Pazifisten und Sozialisten, dass der sozialistische Regierungschef Jospin und der konservative Staatpräsident Chirac endlich die Folterpraktiken des französischen Militärs öffentlich verurteilen. „Die französischen Autoritäten“, heißt es in dem Aufruf, „tragen die Hauptverantwortung für diese Tragödie. (...) Die systematische Folter war von höchster Stelle in Paris gedeckt.“

Was manchen Erstunterzeichnern wie eine „ins Meer geworfene Flasche“ erschien, hat eine Flut ausgelöst. Seit der Veröffentlichung des Aufrufs breiten alte Männer, die seit Kriegsende verdrängt haben, öffentlich aus, was sie erlebt haben. Die meisten gehören zu den zwei Millionen Militärdienstleistenden, die im Krieg in die nordafrikanische Kolonie geschickt wurden. In Algerien sahen die jungen Männer, die ein heroisches Bild der französischen Résistance hatten, mit eigenen Augen, wie ihre militärischen Vorgesetzten plünderten, zerstörten und hinrichteten. Mit eigenen Ohren hörten sie die letzten Schreie von Frauen und Kindern. Die wenigen, die sich auf dem militärischen Dienstweg beklagten, wurden degradiert. Die meisten schwiegen. Jetzt veröffentlichen Le Monde und L’Humanité seitenweise ihren Bericht.

Auch die Täter von damals haben die Gelegenheit ergriffen. Der 82-jährige General Aussaresses erklärte im französischen Fernsehen ohne das geringste Anzeichen von Reue, dass er bei der „Schlacht von Algier“ eigenhändig 24 Männer getötet habe. Die Generäle Massu und Bigeard gaben den systematischen Foltergebrauch zu. Der eine, Massu, bedauert heute: „Das hätte anders gemacht werden können.“ Der andere, Bigeard, rechtfertigt die Folter weiterhin mit Hinweis auf den Notstand: „Wir mussten terroristische Attentate verhindern.“ Zu befüchten haben die alten Männer nichts. Die Amnestie garantiert ihnen Straffreiheit.

Auf die klaren Worte von Jospin und Chirac warten die Erstunterzeichner des „Aufrufs der zwölf“ immer noch. Der Sozialist hat vorgeschlagen, eine historische Kommission zu gründen. Der Konservative hat zwar die Exzesse bedauert, will aber nicht die Ehre der französischen Armee beflecken.

Alleg macht also weiter. Hält Vorträge vor Jugendlichen, die in ihrem Schulgeschichtsunterricht „maximal eine halbe Stunde über den Algerienkrieg gesprochen haben“. Gibt Interviews. Und bereitet eine Autobiografie vor, in der es „natürlich“ auch wieder um den Algerienkrieg gehen wird. Echte Enthüllungen über die Folter hat er in den vergangenen Wochen nicht gehört. „Wer wollte, konnte das alles längst wissen“, sagt er. Wohl aber spürt er die Bereitschaft, endlich einen Schritt weiter bei der Vergangenheitsbewältigung zu gehen: „Das sind wir den neuen Generationen schuldig.“

Tatsächlich kommen die Verteidiger der französischen Ehre im Algerienkrieg, die Deserteure, die Unterstützer der Unabhängigkeitsbewegung FLN und der einzige General, der öffentlich die Folter kritisiert hatte und dafür in Festungshaft ging, Pâris de Bollardière, bis heute weder in Schulbüchern noch in französischen Lexika vor. Und Henri Alleg wird dort allenfalls als Buchautor erwähnt. Die Folter- und Putschistengeneräle hingegen füllen ganze Seiten.

Warum kommt das alles erst jetzt? „Weil die Hauptakteure des Krieges das Ende ihres Lebens erreichen“, sagen manche Unterzeichner des „Aufrufs der zwölf“. „Auch der Pinocheteffekt spielt eine Rolle“, sagt Alleg. Ein Gerichtsverfahren gegen seine eigenen Folterer, die er in „La Question“ namentlich und mit Dienstgrad genannt hat, kam ihm freilich nie in den Sinn. Genauso wenig wie eine Forderung nach Entschädigung. „Wir wollen Reparationen an Völker, nicht an Einzelpersonen“, sagt er.

DOROTHEA HAHN ist seit 1995 Frankreich-korrespondentin der taz