Willkommen in der Lattenrostmoderne

Wenn Klaus und Edith durch den Schacht zum Mittelpunkt der Erde reisen, ist es um die Liebe schlecht bestellt: Am Bochumer Schauspielhaus haben Autor Lukas Bärfuss und Regisseur Samuel Schwarz mit ihrer für die Gruppe 400asa konzipierten Theaterexpedition das Innere der Individuen erforscht

von MORTEN KANSTEINER

Das Paar steigt vom Zuschauerraum her auf die Bühne, mitten aus der Gegenwart heraus. Er trägt synthetische Kleidung im extrabreiten HipHop-Format. Sie zeigt zwischen ihren Sneakers und einer lackglänzenden Jacke viel Bein. Trotzdem haben die beiden ein archaisches Problem: eine unmögliche Liebe. Ein dunkles Geheimnis lastet auf Edith und stiehlt sich in die Träume ihres Liebsten. Deswegen nimmt er Abschied von ihr, mit einer letzten Liebeserklärung.

Im selben Moment hat auch die Gegenwart genug und macht sich davon; so viel Gefühl ist sie nicht gewöhnt. Hinter Edith (Julie Bräuning) öffnen sich der Vorhang und ein Abgrund: Chantal Wuhrmann hat düstere Bretterverschläge auf die Bühne der Kammerspiele in Bochum gebaut, ein System aus Kammern und niedrigen Gängen. Dramatisch sickert Licht durch die Ritzen, die überall zwischen dunkelbraunen Latten klaffen. Kein Ort, um modisch und sexy zu sein: Edith ist jetzt bis zu den Knöcheln in Schwarz gehüllt (Kostüme: Rudolf Jost).

Die unglückliche Liebe hat ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie ist in den Untergrund des Theaters gerutscht, dorthin, wo die leidenden Individuen vergangener Zeiten zu Hause sind. Und da muss sie für den Rest des Abends bleiben. Denn der junge Autor Lukas Bärfuss und die freie Theatertruppe 400asa, die Matthias Hartmann für diese Produktion ans Bochumer Schauspielhaus geholt hat, haben sich eine Abenteuerreise ins Theaterfundament in den Kopf gesetzt. „Die Reise von Klaus und Edith durch den Schacht zum Mittelpunkt der Erde“ heißt das Stück, und es posiert als Produkt des 19. Jahrhunderts, entstanden irgendwo zwischen Georg Büchner und Georg Kaiser, tief unten in der Moderne.

Die Figuren sprechen Worte wie „Metz“, „Sanität“ oder „Ich habe die Melancholie“ und durchleiden die Abgründe der menschlichen Existenz. Edith lebt bei ihrem Bruder Klaus (Martin Horn), der sie umsorgt, prügelt und sein Geschlecht an ihr reibt. Er ist der einzige, der bei ihr bleibt, weil ja das große Geheimnis auf ihr lastet – ein Vergehen, das nie genannt wird, aber in dieser Schattenwelt nur in Kindsmord bestehen kann. Noch als sie ihren Bruder per Verleumdung hinter Gitter gebracht hat, wird sie von dieser Vergangenheit verfolgt: Ihr neuer Geliebter – wie schon der vorige gespielt von Fabian Krüger – erfährt davon, und wieder wird sie verlassen.

Schlimme Sache. Trotzdem ist die Reise durch den Schacht eine Lustfahrt. Lukas Bärfuss und Samuel Schwarz, der Regisseur der Uraufführung, arbeiten zum ersten Mal an einem Stadttheater und können die Figuren, die sie aus dessen Repertoire gegraben haben, nicht ernst nehmen. Edith ist die Karikatur eines empfindsamen Opfers der Umstände: blass, rote Lippen, und weiße Orchideen im Arm. Ihr wallendes rotes Haar hebt sich vorteilhaft vom ebenso wallenden Mantel ihres zweiten Liebhabers ab. Auch der ein Glanzbild: ein Künstler namens Stein, der absturzgefährdete Vergleiche näselt. „Die Frau sprang vor die U-Bahn, als wär’s ein Sommertag und die Schienen ein Schwimmbecken“, sagt er über den Selbstmordversuch einer Prostituierten.

Klaus hingegen verkörpert den Prototyp des Spießers. Er trägt braun und spitzt bös die Lippen. Solchen Gestalten begegnet man also, wenn man das Innere eines Theaters erforscht, das wiederum im Innern des Menschen gräbt. Keine Wahrheiten verbergen sich dort unten, sondern lustige Klischees. Das ist wohl das Ergebnis der Expedition: Eine Reise zum Mittelpunkt der Erde macht Spaß, aber auf die Dauer sollten sich Theaterleute und andere Sinnsucher neue Ziele setzen. An der Oberfläche, in der Gegenwart gibt es mit Sicherheit auch etwas zu entdecken. Wenn nach zwei Stunden im Halbdunkel der Lattenrostmoderne das Licht wieder angeht, bedauert man ein wenig, dass das Expeditionsteam nicht gleich in die neue Richtung aufgebrochen ist.